Titan 15
anderer mit objektiver Gefühllosigkeit zuzusehen, und er hatte keine Wahl in dem, was er zu tun hatte. Es gab keine andere Möglichkeit – doch selbst für einen NHS-Piloten bedurfte es einiger Augenblicke innerer Vorbereitung, um zum Schrank zu gehen und kalt und vorsätzlich das Leben eines Menschen auszulöschen, den er nie zuvor gesehen hatte.
Natürlich, tun würde er es. So lautete das Gesetz, schonungslos und unwiderruflich festgehalten in jenem erbarmungslosen § L, Abschnitt 8, der Interstellaren Satzungen: Blinde Passagiere sind nach Entdeckung unverzüglich von Bord zu entfernen.
So lautete das Gesetz, und eine Berufung war ausgeschlossen.
Es war nicht ein Gesetz menschlicher Willkür, sondern das Gebot der unausweichlichen Gegebenheiten des Grenzraums. Der Entwick
lung des Hyperraumflugs war die galaktische Expansion gefolgt, und mit der Ausbreitung des Menschen über die Weiten des Raums war das Kontaktproblem mit den weit verstreuten Erst-Kolonien und Forschungsgruppen entstanden. Die riesenhaften Hyperraumkreuzer waren die Frucht der vereinten geistigen und materiellen Kräfte der Erde, und ihre Herstellung war langwierig und teuer. Sie waren nicht in ausreichender Menge erhältlich, um jede kleine Kolonie mit eigenen Kreuzern auszustatten. Die Kreuzer brachten die Kolonisten zu ihren neuen Welten und statteten ihnen in regelmäßigen Zeitabständen Besuche ab, wobei sie einen strengen Fahrplan einhielten; doch konnten sie nicht ihren Flug unterbrechen oder Umwege machen, um Kolonien anzufliegen, deren Besuch zu einem anderen Zeitpunkt eingeplant war; derartige Verzögerungen würden den Zeitplan durcheinanderbringen und ein Gefühl der Unsicherheit nach sich ziehen, das die komplexe gegenseitige Abhängigkeit zwischen der alten Erde und den neuen Welten des Grenzraums zerstören müßte.
Deswegen hatte man ein Verfahren entwickeln müssen, mit Hilfe dessen man auch jenen Welten Hilfe schicken konnte, die nicht auf dem Fahrplan standen. Die NotHilfeSchiffe waren die Antwort gewesen. Da die NHS klein und faltbar waren, beanspruchten sie nur wenig Platz im Frachtraum des Kreuzers; sie bestanden aus Leichtmetall und Plastik und hatten einen kleinen Raketenantrieb, der relativ wenig Treibstoff verbrauchte. Jeder Kreuzer war mit vier NHS ausgestattet und im Falle eines Hilferufs tauchte der nächste Kreuzer gerade lang genug in den Normalraum zurück, um ein NHS mit der notwendigen Ausrüstung und Besatzung auszuschleusen und dann in Richtung Fahrtziel wieder zu verschwinden.
Die von Nuklearkonvertern angetriebenen Hyperraumkreuzer brauchten keinen Flüssigtreibstoff, doch die Nuklearkonverter waren bei weitem zu groß und zu kompliziert, um sie in die NHS einbauen zu können. Die Kreuzer mußten notwendigerweise eine begrenzte Menge des schweren Raketentreibstoffs mit sich führen und der Treibstoff war streng rationalisiert; die Bordcomputer des Kreuzers ermittelten die genaue Treibstoffmenge, die das NHS für seinen jeweiligen Auftrag brauchte. Der Computer berücksichtigte die Kurskoordinaten, die Masse des NHS, die Masse von Pilot und Ladung. Dabei war er sehr akkurat und ließ keinen Faktor in seiner Rechnung aus. Was jedoch nicht vorausgesehen oder gar mit eingeplant werden konnte, war die zusätzliche Masse eines blinden Passagiers.
Die Stardust hatte den Hilferuf von einer der auf Woden stationierten Forschungsgruppen erhalten; die sechs Mitglieder der Gruppe waren von dem durch die Kala -Mücke übertragenen Fieber befallen, und ihr eigener Vorrat an Serum war von einem Tornado zerstört worden, der ihr Lager verwüstet hatte. Die Stardust war in der üblichen Weise vorgegangen: Zurückgehen in den Normalraum, das NHS mit dem Fieberserum ausschleusen, dann wieder im Hyperraum verschwinden. Jetzt, eine Stunde später, deutete der Zeiger darauf hin, daß sich außer der kleinen Schachtel mit dem Serum noch etwas in dem Vorratsschrank befand.
Er ließ seine Augen auf der schmalen weißen Schranktür verweilen. Dort, da drin, lebte und atmete ein Mensch und vertraute wohl allmählich darauf, daß seine Gegenwart zu spät entdeckt werden würde, als daß der Pilot noch etwas an der Lage ändern könnte. Es war auch zu spät, – für den Menschen hinter der Tür war es viel, viel später, als er ahnte, und die Erkenntnis würde schrecklich für ihn sein.
Es gab keinen Ausweg. Um die zusätzliche Masse des blinden Passagiers auszugleichen, würde während des stundenlangen Bremsvorgangs
Weitere Kostenlose Bücher