Titan 15
geschenkt hatte.
Das Ticken war jetzt monoton und gleichförmig; das Klagen der Saiten ließ mich an die stechenden Strahlen der Sonne denken, an ihre Hitze, die der Windhauch gestohlen hatte; das Blau war Sarasvati, Maria und ein Mädchen namens Laura. Von irgendwo hörte ich eine Sitar, sah zu, wie diese Statue zum Leben erwachte, und atmete göttlichen Hauch.
Ich wurde zu Rimbaud mit seinem Haschisch, zu Baudelaire mit seinem Laudanum, ich war Poe, De Quincy, Wilde, Mallarmé und Aleister Crowley. Eine flüchtige Sekunde lang war ich mein Vater auf seiner dunklen Kanzel, in seinem noch dunkleren Anzug, und die Hymnen und das Keuchen der Orgel waren in hellen Wind verwandelt.
Sie war eine bunte Wetterfahne, ein mit Federn bewachsenes Kruzifix, das in der Luft schwebte, eine Wäscheleine mit einem einzigen grellbunten Kleid. Ihre Schulter war jetzt bloß, und ihre rechte Brust bewegte sich auf und ab wie ein Mond am Himmel. Ihre rote Brustwarze tauchte plötzlich über einer Falte auf und verschwand wieder. Die Musik war so streng wie Hiobs Hader mit Gott, und ihr Tanz war Gottes Antwort.
Die Musik verlangsamte sich, senkte sich; man war ihr begegnet, hatte sich ihr angeglichen, ihr geantwortet. Ihr Kleid kroch – gleichsam als lebte es – wieder in die Falten zurück, die es ursprünglich gehabt hatte.
Sie sank auf den Boden nieder. Ihr Kopf fiel auf ihre angezogenen Knie. Sie regte sich nicht.
Schweigen.
Meine Schmerzen in den Schultern sagten mir, wie angespannt ich gewesen war. Meine Achselhöhlen waren feucht. Ströme von Schweiß waren an meinen Seiten heruntergeflossen. Was tat man jetzt? Applaudieren?
Aus dem Augenwinkel suchte ich M’Cwyie. Sie hob die rechte Hand.
Wie auf ein telepathisches Geheiß schauderte das Mädchen jetzt am ganzen Körper und stand auf. Auch die Musiker erhoben sich. M’Cwyie tat es ihnen gleich.
Ich stand auf. Mein linkes Bein war eingeschlafen, und ich sagte: »Das war sehr schön«, so leer das auch klang.
Die Antwort, die ich erhielt, waren drei verschiedene Hochformen von ›danke‹.
Ein Flattern von Farben, und ich war wieder mit M’Cwyie allein.
»Das war der Einhundertsiebzehnte der Zweitausendzweihundertvierundzwanzig Tänze des Locar.«
Ich blickte auf sie hinab.
»Ob Locar nun recht oder unrecht hatte, jedenfalls hat er eine schöne Antwort auf das Anorganische geschaffen.«
Sie lächelte.
»Sind die Tänze Ihrer Welt wie dieser?«
»Einige von ihnen sind ähnlich, aber ich habe noch nie einen gesehen, der genau wie dieser war.«
»Sie ist gut«, sagte M’Cwyie. »Sie kennt alle Tänze.«
Eine Andeutung ihres früheren Ausdrucks, der mich beunruhigt hatte…
Aber im nächsten Augenblick war er weggewischt.
»Ich muß jetzt wieder meinen Pflichten nachgehen.« Sie trat an den Tisch und schloß die Bücher. »M’narra.«
»Auf Wiedersehen.« Ich schlüpfte in meine Stiefel.
»Auf Wiedersehen, Gallinger.«
Ich ging zur Tür hinaus, stieg in den Jeepster und fegte durch den Abend in die Nacht. Meine Schwingen aus wehendem Wüstensand flatterten langsam hinter mir.
2
Ich hatte gerade eine kurze Grammatiksitzung mit Betty beendet und die Tür hinter ihr geschlossen, als ich die Stimmen im Flur hörte. Der Luftschlitz meiner Tür war einen Spalt geöffnet, und so stand ich dort und lauschte:
Ich hörte Mortons kräftiges Tremolo: »Ob ihr’s glaubt oder nicht. Er hat vor einer Weile ›Hallo‹ zu mir gesagt.«
»Hm!« Emorys Elefantenlungen explodierten. »Entweder ist er krank, oder Sie standen ihm im Weg, und er wollte, daß Sie ihm Platz machen.«
»Wahrscheinlich hat er mich nicht erkannt. Ich glaube nicht, daß er jetzt noch schläft, wo er diese Sprache, dieses neue Spielzeug hat. Ich hatte letzte Woche Nachtwache, und jede Nacht, wenn ich um 0300 an seiner Tür vorbeikam, hörte ich noch sein Tonbandgerät laufen. Um 0500, als ich abgelöst wurde, war er immer noch am Werk.«
»Der Bursche arbeitet hart«, räumte Emory widerstrebend ein. »Ich glaub’ sogar, daß er irgendwelche Mittel nimmt, um wachzubleiben. Er sieht jetzt immer so weggetreten aus. Aber das ist, glaube ich, für einen Dichter ganz normal.«
Betty war auch noch in der Nähe, denn jetzt schaltete sie sich ein:
»Gleichgültig, was Sie von ihm denken; ich werde jedenfalls mindestens ein Jahr brauchen, um das zu lernen, was er in drei Wochen aufgenommen hat. Ich bin bloß Sprachwissenschaftlerin, kein Dichter.«
Morton mußte in stiller Leidenschaft
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