Titan 22
wenigsten Wasser benötigten. Ganz gleich, wie man die Zahlen auch jonglierte, die Antwort war stets dieselbe – der Tod für den größten Teil der Rasse binnen fünf Jahren durch langsames Verdursten.
An diesem Punkt begannen die Geheimkonferenzen. Kein Wort daraus ist je an die Presse gegeben worden, und doch sprach es sich herum: Die Menschheit war dem Untergang geweiht, aber einige würde man möglicherweise retten können. Wenn die Bevölkerung auf ein Zehntel reduziert würde, könnte jenes Zehntel überleben, aber nur wenn die Reduzierung schnell stattfand. Und so lebte die Angst vor der Bombe-Schneiders schrecklicher Entdeckung, die man völlig vergessen hatte – aufs neue auf. In dem heißen, trockenen Frühling 1951 verbreiteten sich die Gerüchte auf bösartige Weise: Sowjetrußland bereitete sich darauf vor, die Bevölkerung Amerikas in einem einzigen Superangriff auszulöschen, um dann die Kontrolle über die Großen Seen an sich zu reißen. Konferenzen wurden in Washington einberufen, unter einer tropischen Sonne, die die Tagestemperaturen auf 45 Grad ansteigen ließ, in den Tiefen arktischer Nächte, in denen Teiche binnen weniger Stunden zufroren. Einige Male konnte man Dr. Schneider das Pentagon eilig betreten und verlassen sehen. Offensichtlich lag etwas in der Luft. Amerika würde zuerst zuschlagen, würde sich selbst retten, indem es den Aggressor aufhielt, ehe dieser seinen Schlag führen konnte. Und dann geschah das Unglaubliche. Der Präsident kündigte an, daß am 10. Juni 1951 um 9.00 Uhr abends nach Ostküstenzeit eine Radiosendung von ›historischer Bedeutung‹ stattfinden würde. Um diese Stunde versammelte sich die größte Radiozuhörerschaft aller Zeiten. Wie durch Zauberei flammten in Los Angeles und den anderen Städten an der Küste die Lichter auf – auf Befehl Washingtons war das Kraftwerk am Boulder Damm wieder in Betrieb gesetzt worden, die mächtigen Generatoren drehten sich. Staunend lauschten die Menschen.
Die Radioansprache begann ohne die Formalität und all den Aufwand, der für solche Anlässe sonst üblich war. Offenbar war jedermann in Washington für solches Zeremoniell zu müde. Ein Ansager erklärte: »Meine Damen und Herren, der Präsident«, und dann begann die müde, vertraute Stimme, diesmal sogar ohne das übliche ›Mitbürger‹.
»Sie sind in diesen schweren Zeiten sehr geduldig mit uns gewesen, und ich bin sehr glücklich, Ihnen sagen zu können, daß wir eine Lösung gefunden haben, die uns allen eine gute Chance zum Überleben bietet. Diese Lösung ist nicht Krieg. Die Regierungschefs Großbritanniens, Frankreichs, Chinas, der Sowjetunion sind heute bei mir, um die Arbeit in ihren Ländern mit uns zu koordinieren. Außerdem ist hier auch der wahre Held des Tages, und ich werde es ihm überlassen, den Vorschlag zu erklären, den er uns vor vier Wochen vorgelegt hat. Ich darf Ihnen Dr. Alexander Schneider vorstellen.«
Ordway und ich hörten an dem kleinen Radio in meinem Büro zu. Ich nehme an, daß unsere Reaktion typisch war, denn ich erinnere mich gut, wie er ausrief: »Was, Massenselbstmord durch die Bleibombe?« Und dann lauschten wir. Es war das erstemal, daß ich den Physiker je zu hören bekam. Seine Stimme war hoch, etwas schrill, unsicher, und schien manchmal überschnappen zu wollen. Seine Vortragsweise war zuerst zögernd, wurde dann aber selbstbewußter.
»Meine Damen und Herren: Am 14. Mai habe ich mit dem Präsidenten bezüglich eines Vorschlags Verbindung aufgenommen, der die augenblicklichen… äh… Schwierigkeiten betrifft, in denen… äh… viele von uns sich finden. Berechnungen lassen erkennen, daß durch die Kernspaltung von Blei Milliarden Elektronenvolt Energie freigegeben werden. Man kann diesen Prozeß, im Gegensatz zur Plutoniumspaltung, dazu veranlassen, mit mäßiger Geschwindigkeit abzulaufen. Die Energieleistung von einem Pfund Blei reicht aus, um 150 Millionen Liter Wasser zum Verdunsten zu bringen. Da die jährliche Bleiproduktion knapp unter einer Million Tonnen pro Jahr liegt, ist nicht schwer zu erkennen, daß man damit eine sehr große Wassermenge zum Verdunsten bringen kann. Die technischen Probleme sind nicht zu schwierig. Ich danke Ihnen.«
Die Stimme verstummte plötzlich. Fred und ich sahen einander einen Augenblick lang ausdruckslos an, und dann schaltete sich wieder die Stimme des Präsidenten ein, offensichtlich improvisiert.
»Was Dr. Schneider meint«, sagte er fast launig, »ist, daß wir
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