Titanic - Wie ich den Untergang ueberlebte
Carlisle, mehr Platz für
Rettungsboote vorgesehen hatte, er war aber von der Direktion auf 16 plus 4
zerlegbare Boote heruntergehandelt worden. Vor dem Hintergrund zweier
parlamentarischer Anfragen (1910 und 1911), die Bootsausstattung von großen
Passagierschiffen betreffend, erscheint das sogar verständlich, denn die
Antworten der Regierung zielten darauf ab, die Sicherheit der Schiffe selbst zu
verbessern. Vorschriften für eine wasserdichte Abschottung des Rumpfes, die ein
Schiff »im Normalfall unsinkbar« werden ließen, schienen dazu besser geeignet
zu sein, als die Verpflichtung, mehr Boote anzuschaffen, die wiederum mehr
Besatzung für ihre Bedienung erfordert hätten. Aber das war kein britisches
Dilemma, sondern überall üblich. Die allgemein dünne Personaldecke wirkte sich
beim Sinken der Titanic nicht aus, da ausreichend Zeit zur Verfügung
stand – aber wehe, wenn diese fehlte! Es galt in den damaligen
Regierungskreisen als Selbstverständlichkeit, die vermeintlich zusätzlichen
Kosten für Bootsmatrosen den Reedereien nicht zuzumuten – der Klassenkampf war
schließlich in vollem Gange (zum Beispiel der Bergarbeiterstreik im Frühjahr
1912). Außerdem war die Handelsschiffahrt seit Beginn des 20. Jahrhunderts von
keinem großem Unglück betroffen worden, ein Verlangen nach mehr Sicherheit war
in den Köpfen der Menschen einfach nicht vorhanden. Die Statistik bewies:
Seereisen sind die sicherste Reiseart überhaupt. Auch dieser Aspekt wird von
Beesley schon abgehandelt. Wäre das Erinnerungsvermögen weiter in die
Vergangenheit zurückgegangen, hätten aufmerksame Zeitgenossen bemerkt, daß von
1890 bis 1912 nicht weniger als 102 Schiffe mit Eis kollidiert waren. Diese
Fälle reichten von leichter Beschädigung bis zum Untergang, fanden aber keine
sonderliche Beachtung in der damaligen Berichterstattung. Im Jahre 1879 traten
ganz ähnliche Bedingungen wie bei der Titanic auf. Damals rammte in etwa
dem gleichen Seegebiet der Dampfer Arizona einen 20 Meter hohen Eisberg
in dichtem Nebel; direkt, so daß er seinen Bug zerschmetterte. Das
Kollisionsschott machte seinem Namen alle Ehre, und so konnte das Schiff den
Nothafen St. Johns anlaufen – in Rückwärtsfahrt. Experten sind sich im
nachhinein einig, daß auch die Titanic einen Frontalzusammenstoß
ausgehalten hätte, wäre Murdoch kaltblütig genug gewesen, sein Schiff geradeaus
weiterlaufen zu lassen. Die Beschädigungen wären beträchtlich gewesen, es hätte
wahrscheinlich Tote und Verletzte gegeben, aber untergegangen wäre es nicht.
Die möglichen juristischen Auseinandersetzungen eines solchen Manövers – wer
will hinterher beweisen, daß es überhaupt notwendig war – sollen an dieser
Stelle bewußt ausgeklammert bleiben.
Aber Murdoch – ohne
Expertenrunde und ohne Zeit zur Überlegung – wollte der Titanic die
Kollision natürlich ganz ersparen, und fast hätte er es geschafft, denn es
fehlten nur wenige Sekunden am Gelingen. Wie man von Probefahrten wußte,
dauerte es etwa 37 Sekunden, bis das Schiff auf das gelegte Ruder reagierte,
genau die Zeitspanne, die verging, um die weiche Flanke der Titanic dem
Eisberg anzubieten. Folgende Rechnungen machen klar, wie klein der Unterschied
zwischen Untergang und Weiterfahrt gewesen ist:
Annäherungsgeschwindigkeit
des treibenden Eisbergs zum entgegenkommenden Schiff:
Geschwindigkeit
Strecke nach 37
40
45
50 Sekunden
bei 16 kn= 8,2 m/s
305
328
369
410 m
bei 18 kn = 9,3 m/s
343
370
417
465 m
bei 20 kn = 10,3 m/s
381
412
463
515 m
bei 21 kn= 10,8 m/s
400
432
486
540 m
bei 22 kn= 11,3 m/s
419
452
508
565 m
Wenn man sich
die Einschätzungen der englischen Untersuchungskommission zu eigen macht, wurde
der Eisberg etwa eine viertel Seemeile voraus (etwa 460 m) erkannt und
gemeldet, und das Ausweichen nach Backbord fiel mit dem Vorbeischleifen des
Eisbergs zusammen. Bei einer Fahrt von 18 kn hätten 10 zusätzliche Sekunden zur
Verfügung gestanden, bei 16 kn (der Geschwindigkeit der Carpathia) sogar
sechzehn! Eine Reduktion auf 18 kn hätte also theoretisch ausgereicht, das
Unglück zu verhindern und das Manöver zu einer Episode in den Gesprächen der
Offiziere werden lassen.
Jedoch, wie
die oben genannte Untersuchung auch zeigte und wie Beesley es andeutet: es war
normale Praxis, bei klarem Wetter (rein subjektiv definiert) die
Geschwindigkeit beizubehalten und sich auf die Ausgucks zu verlassen. Die
Erfahrung, die zu dieser Einstellung führte, basierte allerdings auf
Überfahrten,
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