TITANIC-WORLD
Zwischendeckpassagieren einen fraglos leichteren Aufstieg zum Bootsdeck zu ermöglichen. Warum diese Durchgänge aber wirklich verschlossen blieben, entzieht sich unserem Wissen; allerdings haben Spekulationen – besonders jene, die uns in Verfilmungen so gerne gezeigt werden – dazu beigetragen, sie als Wahrheit anzuerkennen. Ein jeder Historiker hat sich den Kopf über den hohen Verlust anMenschenleben, gerade aus der dritten Klasse, zerbrochen und viele glauben, dass es einen Befehl gegeben haben muss, die Zwischendeckpassagiere so lange unter Deck zu halten, bis die besser situierten Reisegäste das sinkende Schiff verlassen hatten. Falls es eine solche Order je gegeben hat, so muss Steward Hart irgendwann bewusst geworden sein, dass diese, in seiner Obhut stehenden Menschen, zu einem gräßlichen Tod verurteilt waren. Vielleicht erkannte er diese Wahrheit, als ihm einfiel, dass auch er der arbeitenden Klasse angehörte und somit kein Recht auf einen Platz im Boot beanspruchen konnte. Es mag aber auch sein, dass er der Einzige war, dem eine gewisse Planlosigkeit auffiel und dass der Befehl, die Türen zu öffnen, versäumt worden war. Er war einer der leisen Helden in der Titanic-Tragödie, der keinen Befehl brauchte, um Leben zu retten.“
Sie unterbrach sich kurz und trank einen Schluck. In ihrem Büro war es mucksmäuschenstill. Inspektor Parker und Sergeant Hays, die kaum etwas über die eigentliche Katastrophe hinaus wussten, brannten darauf, die Geschichte zu Ende zu hören. Selbst Craig, dem diese Episode natürlich bekannt war, wollte, dass Cecilia weitersprach. Sein Fachgebiet war das Schiff, das er, einem Thomas Andrews gleich, wie seine Westentasche kannt; aber es war Cecilia, die der TITANIC ihre Seele zurückgab. Nach dem sie erneut an ihrem Gin Tonic genippt hatte, fuhr sie endlich fort: „Als Steward Hart zum ersten Mal hinab stieg, hatte er Schwierigkeiten Frauen und Kinder zu finden, die bereit waren, ihre Männer und Väter zu verlassen, um mit ihm an Deck zu gehen. Zwar wusste man in der dritten Klasse wesentlich schneller, dass das Schiff tödlich getroffen war, aber dennoch wollten sich die Familien nur ungern trennen. Es dauerte eine Weile, bis Steward Hart seine Gruppe zusammen hatte und es brauchte auch Zeit auf das Bootsdeck zu gelangen; denn einen direkten Zugang aus dem Zwischendeck gab es nicht. Um etwa ein Uhr erreichte er das rettende Deck und lieferte seine Schutzbefohlenen bei Boot 8 ab. Dann ging er wieder hinunter. Diesmal war es deutlich schwieriger eine neue Gruppe zusammen zu stellen, denn der Ernst der Situation bewirkte, dass die männlichen Passagiere darauf drängten, auch an Deck geführt zu werden. Nach vielem Hin und Her gelang es Hart schließlich, sich mit einer weiteren Gruppe Frauen und Kindern auf den Weg zu machen. Er führte sie zu Boot 15. Noch einmal wollte er umkehren, doch der erste Offizier Murdoch gab ihm den Befehl, ins Boot zu steigen. – Harts Barmherzigkeit rettete über fünfzig Menschen das Leben; einschließlich seines eigenen.“
Als sie geendet hatte fiel längere Zeit kein Wort. Parker sah Cecilia mit unverhohlener Bewunderung an. Wie schon bei ihrer ersten Begegnung, so hatte sie auch hier wieder einen Sachverhalt geschildert, ohne zu urteilen oder anzuklagen. Egal, zu welchem Thema die Historikerin sich äußerte, ihr differenziertes Denken imponierte ihm. Auch Sergeant Hays war beeidruckt. Insgeheim hatte er den Beruf des Titanic-Historikers immer belächelt. Für ihn waren Historiker Forscher, die die Vergangenheit beleuchteten, um der Menschheit ihre Vorväter näherzubringen. Bei der TITANIC, so hatte er stets gedacht, gab es wenige nicht bezeugte Tatsachen, deren Aufklärung die heutige Welt bedurfte. Für ihn waren Titanic-Historiker im Grunde genommen nur Menschen, die zu faul gewesen sind, sich einen anständigen Beruf zu suchen. Dochnach Cecilias kleinem Vortrag musste er zugeben, dass er sich geirrt hatte; denn waren es nicht gerade die kleinen, alltäglichen Heldentaten, die der Welt von 2012 fehlten? Er lächelte sie versonnen an. Craig entging der freundliche Gesichtsausdruck des Sergeanten nicht, aber er maß ihm keine besondere Bedeutung bei. Die Blicke hingegen, die Inspektor Parker Cecilia zu warf, fachten seine Eifersucht an. Die intelligenten grau-blauen Augen ruhten mit sichtlichem Wohlgefallen auf der deutschen Historikerin und Craig erkannte, dass aus ihnen mehr sprach, als nur eine einfache Bewunderung. Er beugte
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