TITANIC-WORLD
war. Im Bug stand das Wasser bereits knöcheltief in den Kabinen und im Postraum auf dem F-Deck schwammen die Postsäcke munter umher. Die Fahrgäste der dritten Klasse erkannten den Ernst der Lage wesentlich eher, als ihre Mitreisenden aus der Oberschicht. Allerdings nützte ihnen dieses Wissen wenig. Ihnen wurde lediglich gesagt, sie sollten ihre Schwimmwesten anlegen und sich bereit halten – mehr nicht. Wann immer Cecilia versucht hatte, sich dieses Szenario vorzustellen, versagte ihre Einbildungskraft. Für den modernen Menschen von 2012 ist es einfach unvorstellbar, einer solchen Anweisung Folge zu leisten; insbesondere in dem Wissen, dass das Schiff sinkt. Vor einhundert Jahren jedoch, waren die Angehörigen der Arbeiterklasse es gewohnt, Befehle entgegen zu nehmen und widerspruchslos zu gehorchen. Die fühlten sich nicht nur drittklassig – sie wurden auch so behandelt. Nachdenklich ruhten Cecilias Blicke auf der TITANIC-WORLD . Ihr kam in den Sinn, dass gerade diesen Menschen, die besonders auf Hilfe angewiesen waren, sie in jener Nacht versagt geblieben war. Doch es war müßig darüber nachdenken zu wollen, warum sich keiner der Offiziere um die Zwischendeckpassagiere gekümmert hatte. Die letzten Stunden an Bord waren in einen Nebel der Ereignisse gehüllt worden, je tiefer das Schiff sank. Legenden, um Heldentum und Feigheit, kristallisierten sich heraus und machten die TITANIC unsterblich. Würden die wahren Begebenheiten jener Nacht ans Tageslicht gezerrt, wäre der Mythos auf immer verloren.
Tief in Gedanken versunken starrte Cecilia auf die TITANIC-WOLRD . Wie ein Geist aus der Vergangenheit lag sie da – erhaben, stolz und arrogant. Die bunten Lichter der Leuchtreklame verschwammen vor ihren Augen, als die Bilder in ihrem Kopf sich langsam zu formen begannen. – Da standen sie nun, wartend und mit Angst im Herzen, nicht wissend, ob ihre Söhne verzweifelt nach ihnen suchten oder, ob George, Douglas und Frederick einen Weg auf das rettende Bootsdeck gefunden hatten. Die Zeit verrann. Das Schiff neigte sich mehr und mehr, aber noch immer waren die Gitter vorgezogen und verschlossen. Mutlosigkeit breitete sich aus, dicht gefolgt von einer Panik, als die beiden Matrosen, wie auf ein geheimes Kommando hin, plötzlich ihren Posten verließen. Mit einem letzten, unaussprechlichen Blick auf die Menschen - diewie Tiere in einem Käfig gefangen waren – flüchteten sie. Die Erkenntnis, dass niemand kommen würde, ihnen zu helfen, traf die Eltern wie ein Faustschlag! Obwohl sich eine lähmende Hoffnungslosigkeit ihrer zu bemächtigen drohte, handelten sie. Entschlossen drückte die Mutter das kleinste ihrer Kinder der ältesten Tochter in die Arme, während der Vater die vier Jüngeren ermahnte, beisammen zu bleiben und der großen Schwester zu gehorchen. Mit barschen Worten und unwirschen Gesten – die eigene Todesangst fieberhaft unterdrückend – trieben die Eltern ihre weinenden, ängstlichen Kinder die Treppe wieder hinunter. Zurück in die verwirrende Vielzahl der Korridore, hoffend und betend, sie mögen einen Weg zu den Booten finden. Nach oben! Der letzte Befehl des Vaters; sein verzweifelter Wunsch, sie mögen sich retten. Nach oben! Mit zitternder Hand wischte sich Stella die Tränen aus dem Gesicht. Dann – erfüllt von dem grenzenlosen Schmerz, die Eltern auf immer verloren zu haben – rannte sie mit ihren Geschwistern blindlings durch die endlosen Verschachtelungen der dritten Klasse.
Cecilia erwachte wie aus einer Trance, als sie das Klirren von Gläsern hinter sich hörte. Sekundenlang fühlte sie sich unfähig, auch nur den Kopf zu wenden. Trotz des lauen Frühlingsabends hatte sie eine Gänsehaut am ganzen Körper. Sie fühlte sich leicht benommen und fragte sich verwirrt, was sie gerade gesehen hatte. Hatte sie einen Blick in die Vergangenheit werfen dürfen? Die Bilder in ihrem Kopf waren real gewesen; ganz so, als wäre sie ein stummer Zeuge der tatsächlichen Geschehnisse in jener Nacht geworden. Ratlos schüttelte Cecilia den Kopf. Als Titanic-Historikerin hatte sie immer ein gutes Gespür für die Menschen an Bord und ihre Empfindungen gehabt. Sie kannte die Struktur der Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und wusste, wie die Menschen der damaligen Zeit gedacht haben. Im Hinblick auf die Titanic-Geschichte, basierten ihre Schlussfolgerungen auf diesem Wissen und ihrer Fachlichkeit; beweisen ließen sie sich jedoch kaum. Das soeben Gesehene hingegen, war wie
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