TITANIC-WORLD
zwischen die beiden Mädels und legte einen Arm um deren Schultern, bevor er lakonisch weitersprach: „Die Bonzenscheißen sich doch auch heute noch an, wenn se mal’n paar Euro mehr für ihre Angestellten springen lassen sollen.“
Marc stimmte seinem Freund zu: „Yeap, sagt mein Vater auch immer.“ Dann fragte er Cecilia: „Was haben die denn damals so verdient? Rücklagen hatten die doch bestimmt keine, oder?“
Cecilia schüttelte den Kopf und erklärte: „Das Leben in der untersten Gesellschaftsschicht war von Armut und Ausbeuterei geprägt. Feste Arbeitsverträge oder -plätze gab es für die einfachen Arbeiter, zu denen auch die Heizer und Trimmer gehörten, nicht. Sie wurden immer nur für eine Hin- und Rückfahrt angeheuert und konnten beliebig von der Reederei auf ihren Schiffen eingesetzt werden. Nehmen wir die Arbeiter der Werft von Harland & Wolff einmal als Beispiel: Sie wurden auch nur für den Bau eines Schiffes eingestellt und arbeiteten neun Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche; wobei die reguläre Samtagsschicht aber wenigstens schon mittags um halb eins endete. Der durchschnittliche Verdienst lag bei etwa zwei Pfund pro Woche. Wenn ein Arbeiter jedoch Überstunden machte, dass heißt, wenn er die ganze Freitagnacht und den ganzen Samstag durchgearbeitet hat, dann konnte er seinen Wochenlohn auf bis zu fünf Pfund erhöhen. Nach dem heutigen Wert wären das etwa 120 Euro pro Woche – wenig Geld also, wenn ihr bedenkt, dass davon der gesamte Lebensunterhalt plus Miete für eine durchschnittlich siebenköpfige Familie bezahlt werden musste.“
Nach dieser Erläuterung blickte Cecilia in fünfundzwanzig entgeisterte Gesichter. Da niemand etwas sagte, fuhr sie mit ihren Ausführungen fort: „Die Arbeitsbedingungen selbst waren nicht besser, als die Entlohnung. Es gab keine Umkleideräume, keine Duschkabinen; schmutzig und verschwitzt mussten die Männer nach einem harten Arbeitstag durch die Straßen Belfasts nach Hause laufen. Für die zehn minütige Frühstücks- und die halbstündige Mittagspause stand den Arbeitern weder eine Kantine, noch ein Aufenthaltsraum zur Verfügung; die mitgebrachten Brote wurden gleich am Arbeitsplatz verzehrt. Zu Weihnachten und Ostern gab es je zwei freie Tage und im Juli hatte man zwei freie Wochen. Allerdings handelte es sich nicht um einen bezahlten Urlaub und deswegen versuchten die Ehefrauen einen Shilling pro Woche zu sparen, um diese Ferienzeit zu überbrücken. Es gab keinerlei Ansprüche auf Krankengeld oder eine sonstige finanzielle Absicherung. Jeder arbeitsfreie Tag bedeutete automatisch auch einen Verdienstausfall.“
Als sie geendet hatte, sahen sie fünfundzwanzig Augenpaare immer noch in stummer Verblüffung an. Schließlich sagte Georgia in die Stille hinein: „Ich hab‘ den Ausspruch meiner Tante heutzutage klagen wir alle auf hohem Niveau nie wirklich verstanden. Aber jetzt macht er Sinn. – Dem Nächsten, der sich bei mir beschwert, zeig‘ ich wo der Hammer hängt!“
„Vergiss den Hammer, Georgia! Nimm lieber die Handtasche! Damit triffst du garantiert! – Aua!!! Hör auf! Ich hab‘ doch bloß Spaß gemacht!“ Joshua guckte einen Moment völlig verdattert drein, bevor er einen ebenso verdutzten Marc schützend vor sich schob. Diesmal waren gleich zwei Taschen im Einsatz – die von Georgia und Jasmina.
Eine gute halbe Stunden später standen alle auf dem Bootsdeck. Cecilia verabschiedete sich von der Klasse und bedankte sich für die Aufmerksamkeit. Zum Schluss wünschte sie ihnen noch zwei schöne Tage in London und gab augenzwinkernd ihrer Hoffnung Ausdruck, dass sie nicht all ihr Taschengeld im Souvenirshop verjubelt hatten. Dann trat sie zurück und sah zu, wie ein Matrose den Teenagern in Rettungsboot 13 half. Als alle Platz genommen hatten, stiegen vier wartende Besatzungsmitglieder zu, um das Boot an die gegenüberliegende Pier zu rudern.
Rettungsboot 13, Fassungsvermögen: 65 Personen – Es war eines der wenigen Boote, das die TITANIC voll beladen, um 1.40 Uhr am Morgen des 15. April 1912 verlassen hatte.
Einhundert Jahre später verließ Rettungsboot 13 die TITANIC-WORLD mit fünfundzwanzig Passagieren und vier Besatzungsmitgliedern an Bord. Damit war es nicht einmal bis zur Hälfte seiner Kapazität gefüllt. Bei diesem Anblick dachte Cecilia traurig, dass die meisten Rettungsboote, die das untergehende Schiff in jener Nacht verließen, so ausgesehen haben mussten, wie Boot 13 jetzt – halb leer.
Dann hallte der
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