TITANIC-WORLD
seine Stimme einen ironischen Klang. „An die Probleme bei den Cyber-Welten haben wir uns ja mittlerweile gewöhnt. Aber heute geht auch sonst nix!“ Er begann an den Fingern abzuzählen: „Keine CA‘s, Totalausfall bei allen Spielekonsolen, keine Kinovorführungen und selbst die Jungs in der Funkerbude klagen über so grässliche atmosphärische Störungen, dass das Verschicken und Empfangen von Nachrichten praktisch unmöglich ist. Verflixt und zugenäht! Da soll sich noch einer auskennen!“
„Hört sich großartig an, Martin. Wirklich großartig!“ Cecilias Tonfall wurde noch sarkastischer, als sie hinzu fügte: „Es klingt fast so, als ob alle modernen Attraktionen – oder besser gesagt, die Publikumsmagnete – sich heute entschlossen haben, kollektiv den Geist aufzugeben. Scheiße! – Was war im Kino los?“
Martin zuckte die Schultern. „Jedesmal, wenn im Vorspann der Schriftzug TITANIC erschien, riss der Film und das war dann grundsätzlich das Ende einer jeden Vorführung.“
„Was soll das denn heißen? Das sind doch digitale Aufzeichnungen, die können doch gar nicht reißen“, rief Cecilia fassungslos aus und erntete dafür von Martin einen giftigen Blick. Sein Ton war wütend, als er laut antwortete: „Himmelherrgottnochmal! Woher, zum Henker, soll ich das wissen? In dieser verschissenen Erlebniswelt hat sich heute die gesamte moderne Technik verabschiedet und mich soll, verdammt noch mal der Teufel holen, wenn ich auch nur den Hauch einer Ahnung hätte!“
Nach diesem Ausbruch schwiegen beide, bis Cecilia halblaut vor sich hin murmelte: „Vielleicht liegt’s ja doch am Datum.“
„Bitte?“ Martin sah sie verblüfft an. Ihr Gesicht sah traurig aus, so dass er sofort entschuldigend hinzufügte: „Sorry, dass ich dich gerade so angepfiffen hab‘, Cil. Aber, meine Nerven …“
„Ist schon okay“, winkte sie ab. „Ich kann mir vorstellen, wie’s dir geht. Ich fühle mich auch nicht besser. Seit der Eröffnung ist praktisch kein Tag vergangen, an dem nicht irgendetwas schief gelaufen ist. Probleme scheinen sich in der TITANICWORLD aus dem Nichts heraus zu materialisieren.“
Martin nickte kurz abwesend, bevor er neugierig fragte: „Was meintest du vorhin damit, dass es vielleicht am Datum liegt? Ist heute irgendwas Besonderes?“
„Ja und nein. Heute Abend vor genau 100 Jahren lief die CARPATHIA mit den 712 Überlebenden an Bord in den Hafen von New York ein.“ Martin pfiff durch die Zähne, sagte aber nichts und Cecilia begann zu erzählen: „Es war eine kalte, stürmische Nacht. Es regnete in Strömen, als die CARPATHIA endlich um circa 20.30 Uhr am Cunard -Pier andockte. Etwa 30.000 Menschen hatten sich um die Pier 54 gedrängt und weitere 10.000 verstopften die Zufahrtsstraßen. Du musst wissen, dass zu diesem Zeitpunkt neben einigen wenigen Tatsachen, hauptsächlich Gerüchte im Umlauf waren, die inbesondere die Angehörigen zwischen Hoffen und Bangen hielten. Zwar wusste die Welt, dass die TITANIC nach einer Kollision mit dem Eisberg gesunken war, aber das ganze Ausmaß der Tragödie, die hohe Zahl der Opfer, wer überlebt hatte und wer nicht – zu all diesen Fragen gab es keine verlässlichen Antworten. Mit dem Anlegen der CARPATHIA sollte sich das nun ändern.“ Sie unterbrach sich kurz und fuhr traurig lächelnd fort: „Versuch‘ es dir vorzustellen, wie sämtliche Familienmitglieder, Freunde und Bekannte dicht gedrängt im Regen stehen und die Angst in ihren Herzen, sich deutlich auf ihren Gesichtern wieder gespiegelt hat. Als dann, um etwa 21.00 Uhr, die Überlebenden anfingen das Schiff zu verlassen, loderte die Hoffnung in den Wartenden hell auf. Unter den ersten, die die CARPATHIA verließen, waren die Millionärsgattinnen, Madeleine Astor und Marian Thayer . Beide hatten ihre Männer beim Untergang verloren, doch ihre Trauer teilte in diesem Moment ganz Manhattan. Je mehr Überlebende von Bord gingen, umso greifbarer wurde der schreckliche Verlust an Menschenleben. Auf jedes glückliche Wiedersehen, kamen mindestens zwei Familien, die der traurigen Tatsache ins Auge blicken mussten, einen oder mehrere Angehörige verloren zu haben. Als um Mitternacht schließlich alle 712 Überlebenden von Bord gegangen waren, warteten immer noch Gruppen von Menschen am Kai. Ein winzigkleiner Hoffnungsfunke hielt sie dort. Vielleicht gab es doch noch ein anderes Schiff, das Überlebende aufgenommen hatte? Die grausige Wahrheit muss sie wie ein Keulenschlag getroffen
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