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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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mit ihm anzufangen. Raffis Vater leidet an seiner Biografie. Er hat seine Familie mit seiner schlechten Laune fest im Griff. Sobald ein Familienmitglied droht, glücklich zu werden, schlägt er unerbittlich zu. Wird bösartig, droht mit psychischen, somatischen oder psychosomatischen Schmerzen, verletzt sich, bricht sich wie zufällig die Glieder. Und an allem sind die Deutschen schuld. Und dieser Krieg! Dieser Krieg! Nur das Unwohlsein aller hält ihn am Leben. Je schlechter es allen geht, desto quicklebendiger wird er! Die Augenblicke, in denen Raffi unbeschwert in den Tag hinein lebt, sind selten und meist weit weg von seinem Zuhause. Doch durch das Telefon bleibt der Zugriff der Familie allgegenwärtig. In solchen Momenten höre ich Raffi auf Russisch oder Tschechisch antworten: gereizt und zunehmend unglücklich. In den darauffolgenden Tagen nehmen seine Reportagen an Bösartigkeit zu, er bekommt Kopfschmerzen, und unsere Mittagessen werden die Hölle.
    Und ich? Meine Mutter wirkte auf mich immer abweisend und kalt. Umarmte ich sie, erstarrte sie, hielt den Atem an, bis ich wieder losließ. Oft dachte ich damals, sie könne mich nicht leiden. Irgendwann wollte ich sie auch nicht mehr anfassen, ekelte mich. Heute denke ich, wie überfordert sie gewesen sein muss: Als sie 15 war, wurden in Jugoslawien die Rassengesetze eingeführt, sie musste die Schule verlassen, den Judenstern tragen, ihr gewohntes Leben aufgeben. Sich verstecken, fliehen. Mit 17 kam sie ins Lager. Der Ekel vorden Demütigungen, vor den anderen Inhaftierten, der Ekel vor sich selbst. Etwas war in ihr erfroren, für immer. Nur im Widerstand, im Kampf, konnte sie sich noch spüren. Mein Unbehagen in ihrer Nähe war ihr eigenes.
    Wir hatten die Traumata unserer Eltern übernommen, sehr gründlich, sehr vollkommen. Wir sprachen von Lagern, die wir nie gesehen hatten, von dem Gefühl auf dem Todesmarsch, immer wieder von Tod. Wir waren die exakten Kopien unserer Eltern und deren Geschichte.
    Es war ein Schock: Zwar hatte ich nicht den grausamen Auschwitz-Alltag nachzuerleben, aber jede Pore meiner selbst war Widerstand, doch nicht mein eigener Widerstand, sondern geerbter. Ich war die Partisanin von 1941, die im 21. Jahrhundert weiterkämpfte.
    Wenn es uns aber so ging, wie ging es dann den Kindern und Kindeskindern der Täter? Ich hatte einiges gelesen, Mitscherlich, Gottfried Wagner. Doch die meinte ich nicht: Sie waren sich ihrer ererbten Vergangenheit bewusst geworden. Ich meinte die, mit denen ich in der Mensa saß, den Schwangerschaftskurs besuchte, mit denen ich die Grünen wählte. Die nicht wussten, wie sehr sie von ihren Eltern geprägt waren. Vom Vater, der vielleicht Lageraufseher gewesen war oder Lokomotivführer der Transporte oder noch etwas anderes oder gar nichts von alldem. Was wussten die von ihren Müttern und schließlich von sich? Das Eis, auf dem ich meinen Mitmenschen begegnete, wurde plötzlich derart dünn, dass ich mir weitere Gedanken verbot.
    Am letzten Abend des Seminars gab es ein großes Fest. Wir feierten euphorisch die ganze Nacht hindurch. Wir hatten überlebt, damals und heute. Das war Grund genug, bis in die Puppen zu tanzen und herumzuknutschen …
    Adi ist Bettnässer und deswegen in ärztlicher Behandlung.
    »Nu, Adi«, fragt man ihn nach einigen Monaten in der Synagoge, »ist es besser?«
    »Nein«, sagt dieser, »aber es macht mir nichts mehr aus.«
    Nach einigen Jahren Therapie verstand meine Therapeutin immer noch nichts von den Problemen der »zweiten Generation«. Wie sollte sie auch, war ich doch die erste Jüdin, die bei ihr in Behandlung war. Aber sie hatte mich immerhin so weit gebracht, meine Neurosen zu benennen, ähnlich dem armen Adi in der Synagoge.
    Als Schauspielerin konnte ich das praktischerweise in einem Theaterstück tun, das ich selbst geschrieben hatte. Ich nannte den Abend »Jonteff, ein Festtag mit meinen Dibbuks«. Ein Familienfest, fast eine Hochzeit, bei der alle zu Wort kommen einschließlich der Braut. Die soll einen Juden heiraten, aber kann oder will nicht. Ich schlüpfte in alle Rollen, schließlich hatte ich dreißig Jahre Zeit gehabt, sie zu studieren. Ich sang italienische Opern wie mein Vater (»Nessun dorma … keiner schlafe«), kratzte mich beständig wie meine Mutter (»das kommt von der Leber, Kind!«) oder weinte wie meine Tante (»verlorene Liebe, verlorenes Leben«), während ich den Kopf leicht hin- und herwiegte.
    Das war mein Outing als jüdische Schauspielerin

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