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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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springen barfuß zum Auto.
    »Weißt du eigentlich, dass mein Großonkel Ankläger bei den Nürnberger Prozessen war?«
    Ich habe es nicht gewusst, aber es freut mich.
    »Probenbeginn Mitte September, am 9. November Premiere!«
    »Läuft!«, antworte ich, und wir umarmen uns zum Abschied. Auf mich warten 15 Tonnen Sekundärliteratur zum Thema »Mahnmal« und »Deutsche Gedenkkultur«.
    Adriana, was liest du da?
    Ich höre meine Mutter sprechen. Ich höre sie immer alle sprechen. Die Toten sowieso. Neuerdings auch die Lebenden. Es scheint auch Dibbuks zu geben, die schon zu Lebzeiten keine Ruhe finden und bei mir um Asyl bitten.
    »Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens«, antworte ich brav.
    Na prima, dazu fällt mir bestimmt was ein! Hast du Zeit, deiner Mutter zuzuhören?
    Die Villa meiner Eltern war ein rundes Haus auf einem Hügel, unter uns ganz Zagreb … Ein rundes Haus zu bauen war für die damalige Zeit – 1933 – ungeheuer modern. Dem Architekten gefiel beim ersten Versuch das Dach nicht, also wurde es abgerissen, und er durfte es noch mal versuchen. Das hat der Architekt meinem Vater, deinem Großvater, nie vergessen, und viel später hat er uns in seinem Haus versteckt, aber das ist eine andere Geschichte … Durch das Speisezimmer gelangte man in die Bibliothek, eine Uhr tickte, Biedermeiermobiliar, schummriges Licht … Von der Anrichte in das Schlafzimmer der Eltern, dann ein Bad, dahinter die Kinderzimmer für deine Tante und mich, dann die Zimmer des Personals. Ja, so musst du dir das vorstellen.
    Wir hatten eine Gouvernante, Millie, die hat später den Herrn Rotovnik geheiratet … und eine Köchin. Dein Großvater begann als armer Glasbläser. Er kam aus der Nähe von Budapest, wanderte aus nach Prag und später nach Wien, also ganz die k. u. k.-Monarchie-Strecke, wurde schließlich in Zagreb ansässig und ein vermögender Mann. In seinem Großhandel konnte man alles kaufen, was aus Glas und Porzellan war, auch Spiegel, Kristallleuchter. Und Sodawasser! Ganz Jugoslawien kaufte bei ihmein, aber auch halb Europa! Man sprach nur deutsch, bei Tisch sowieso, wenn man überhaupt sprach. Er war herzkrank, unser Vater, er durfte sich nicht aufregen, alles richtete sich nach ihm.
    Ein Raucher und Spieler, aber von gehobener Klasse, wie du dir denken kannst. Deine Tante und ich waren in allen großen Casinos in Europa: Baden-Baden, St. Moritz, Monte Carlo, Opatija.
    Einmal kamen wir zurück nach Zagreb, und er beschloss, ein neues Fabrikgebäude mit Wohnhaus zu bauen. Die Fenster ließ er abtönen, dunkelgrün. Meine Mutter, deine Oma, weigerte sich, dorthin umzuziehen, es war ihr zu dunkel. Also zog nur die Glasproduktion um, und in die Wohnetage kamen ein riesiger Billardtisch und eine Tischtennisplatte, mehr nicht. Sagenhaft.
    Ein Choleriker, das hab ich von ihm geerbt, ich liebte ihn sehr.
    Den Porzellangroßhandel wollte er nicht aufgeben, als die Deutschen im April 1941 einmarschierten. »Wir sind Deutsche, wir sind doch auch deutsch« … hörte ich ihn immer wieder sagen. Während des Essens bekam er eine Herzattacke, starb. Sofort haben wir unsere Koffer gepackt. Wir sind zu spät geflohen … Ich war 17, meine Schwester Jelka, deine Tante, 21 Jahre alt. Freunde versteckten uns. Teta Katha, die Frau des Architekten, solange sie konnte. Ein halbes Jahr schliefen wir jede Nacht woanders. Von meinen Schulfreundinnen aus der Jüdischen Oberschule hatten sie von 33 schon 28 deportiert. Meine Mutter bestach einen hohen Polizisten, der hielt uns auf dem Laufenden, wo und wann mit Deportationen zu rechnen war. Schließlich mussten wir doch fliehen, aber dann hat man uns im Zug erwischt, kurz vor der Grenze … und an die Ustascha ausgeliefert. Wir kamen ins Lager, deine Großmutter, deine Tante und ich …
    Was soll ich dir sagen? Kraljevica, das erste Lager, war ein Schock. Damals wussten wir noch nicht, dass das Lager auf der Insel Rab so viel schlimmer werden würde. In Kraljevica lebten wir in Massivhäusern und unterstanden dem italienischen Kommandanten Rota, ein Mensch, vor allem kein Judenhasser. Ich erinnere mich, dass ich im Chor sang, deine Tante ein Gedicht aufsagte, ja, wir durften sogar Pakete empfangen. Als die Deutschen auf die Auslieferung aller jugoslawischen Juden drängten, brachte uns Rota zum Schutz auf die Insel Rab. Holzbaracken, 80 Juden pro Baracke, kaum hygienische Vorrichtungen, kaum Essen. Ein Konzentrationslager. Aber die Deutschen waren

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