Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
nicht da.
Meine Mutter holte sich an Rosch ha-Schana den Tod … Auch eine Möglichkeit, das neue Jahr zu begehen.
Für Rosch ha-Schana, das Neujahrsfest, hatte man in der Gemeinde koscheres Hähnchenfleisch aus Israel bestellt, aber es war nicht rechtzeitig angekommen. In der Not behalf man sich mit deutschem Fisch, und der war natürlich schlecht. Meine Mutter klagte am Telefon über Übelkeit, Schwindel. Kurze Zeit später muss sie gestürzt sein und das Bewusstsein verloren haben, in ihrer Wohnung, die von innen abgeschlossen war. Der Hausmeister suchte sie vergeblich, brach die Tür auf und ließ sie in die Klinik bringen. Sie war ungehalten darüber, dass man die Tür hatte aufbrechen lassen, um sie zu retten. Sie wollte wohl lieber sterben, als die Tür aufbrechen zu lassen. Ich glaube, sie ahnte, dass sie nicht wieder nach Hause kommen würde.
Als man mich anruft, bin ich mitten in den Vorbereitungen für »Trauer to go«. Die Proben sollen in den nächsten Tagen beginnen. »Sie sollten gleich kommen, besser keine Zeit verlieren«, erklärt mir der diensthabende Arzt.
Um 21.20 Uhr geht der letzte Flieger von Berlin nach Frankfurt. Es gibt noch einen einzigen Platz, in der Business Class. Man bringt mir Champagner, hält mich für eine Stewardess auf dem Heimflug, in der Eile habe ich nur meine Handtasche mitgenommen, darin den Hausschlüssel für die Wohnung meiner Mutter in Gießen und mein Handy. Ichmiete mir einen Leihwagen für die Strecke von Frankfurt nach Gießen, habe das Gefühl, ich müsse mich beeilen, rufe Tine im Theater an und bitte sie, den Probenbeginn um zwei Tage zu verschieben, meiner Mutter ginge es nicht gut. Ich würde nach ihr sehen und wäre spätestens in drei Tagen zurück in Berlin. Die Strecke kenne ich noch gut aus meiner Kindheit. Wir sind regelmäßig, wie alle Emigranten in der Provinz, nach Frankfurt zum Einkaufen gefahren. Nur dort gab es schon in den frühen Sechzigerjahren frische Bourekas, Mozzarella und Espresso.
Meine Mutter liegt im selben Krankenhaus, in dem auch mein Vater gelegen hat. Drei Ärzte stehen um sie herum, und sie lächelt mich an: »Schön, dass du endlich gekommen bist.«
Ein junger Arzt nimmt mich zur Seite.
»Sie hat eine schwere Embolie. Die Arterien sind vollkommen zu. Ist Ihnen nie etwas aufgefallen? Ihre Mutter muss seit etlichen Jahren schwer krank sein. Hatte sie keine Schmerzen?«
Ich kann ihm auf seine Fragen nicht antworten. Sie ist hin und wieder zu Ärzten gegangen, aber eigentlich hat sie nur meinem Vater vertraut. Mit einem Arzt im Hause konnte ihr doch nichts passieren.
»Sie ist in der letzten Zeit sehr langsam gegangen, ihre Füße schmerzten, sie hat häufig vor den Schaufenstern angehalten. Aber sind das genügend Gründe für eine Notaufnahme?«, scherze ich verzweifelt.
Bevor man sie operiert, lässt man uns warten. Es wird Nacht. Einige Laborbefunde fehlen, wir ahnen: Man hat ihr eine Galgenfrist gewährt. Ich plaudere mit ihr, wir lachen sogar. »Schau dir mal die Initialen auf diesem Ring an, erkennst du was? Es sind meine und die deines Vaters. Wir haben sie übereinander eingravieren lassen, und nun kann man nichts mehr lesen!«
In den Tagen, die dann folgen, klammere ich mich an diese letzten Stunden und an den Ring, den sie vor der Operation ausgezogen und mir in die Hand gedrückt hat.
Man setzt ihr einen Bypass. Sie wacht auf und lächelt, aber einen Moment später kommt wieder eine Schar Ärzte und sagt: »Die Operation ist nicht erfolgreich verlaufen. Wir müssen Ihr rechtes Bein amputieren.«
Als man sie diesmal in den Operationssaal fährt, sind ihre Augen weit aufgerissen. Man schneidet ihr das Bein ab. Es ist vier Uhr morgens, man schickt mich nach Hause, vollkommen überfordert und allein.
Ich warte in der Wohnung meiner Eltern. Sie ist in einem so desolaten Zustand, dass es nicht auszuhalten ist. Auf dem Boden verstreut liegt blutige Wäsche, hier und da Erbrochenes, Kot. Als würde sie morgen wiederkommen, mache ich sauber, stelle die alte Waschmaschine an.
Meine Mutter war immer schon jähzornig, wie ihr Vater. Sie schrie und schrie, bis sie vor Erschöpfung aufhören musste. Als Kind duckte ich mich unter dem Lärm, mich ergriff hilflose Panik. Nie würde sie zu schreien aufhören, dachte ich immer. Wenn sie sich endlich beruhigt hatte, tat es ihr leid. Aber das nutzte mir nicht viel. Manchmal hasste ich sie, wünschte ihr den Tod.
Aber doch keine Beinamputation!
Ich warte, schmiede Pläne, wie
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