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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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ein Leben mit einem Bein aussehen könnte. Schließlich braucht sie keine Beine, um ihr neues Buch fertig zu schreiben. Ich könnte sie nach Berlin holen. Sie würde mit einem extrakleinen Rollstuhl sogar in den Aufzug passen, alles kein Problem …
    »Noch zwei Tage, dann können wir mit den Proben beginnen«, informiere ich am Morgen Tine in Berlin. »Schaut euch schon mal den Film ›Das Urteil von Nürnberg‹ an, kann nicht schaden. Ja, und den Titel ›Trauer to go‹ finde ich super!« Ich verdränge virtuos den Ernst der Lage. Aber meine Muttererholt sich nicht von diesem schweren Eingriff, kommt nicht wieder zu Bewusstsein. Jedenfalls nicht mehr so wie früher.
    Ich warte an ihrem Krankenbett auf der Intensivstation, schaue auf die Monitore, schaue zu ihr. Nimmt sie mich noch wahr?
    Zwei Ärzte kommen vorbei, sehr freundlich. Sie schauen meine Mutter an, dann mich: »Kennen wir Sie nicht aus dem Fernsehen?« Ich bin dankbar für die Unterbrechung und erzähle von meiner letzten Rolle – ich habe tatsächlich eine Krankenschwester gespielt. Erst nach ein paar Minuten merke ich, wie unruhig meine Mutter wird. Sie wirft ihren Kopf hin und her. Ist sie etwa eifersüchtig? Oder wütend, dass ich so pietätlos bin? Dass es um mich geht, während sie Höllenqualen leidet? Nun weiß ich wenigstens, dass sie mich wahrnimmt.
    Sofort wechsele ich schuldbewusst das Thema, die Ärzte werden weniger höflich, schlagen mir die Amputation des anderen Beines vor. Mir wird schlecht, alles schwankt. Sie haben mich getäuscht mit ihrer Freundlichkeit. Sehen sie denn nicht, dass schon die erste Amputation zu viel gewesen ist?
    »Meine Mutter ist doch kein Schnitzel!«, rufe ich. »Sie ist kein Schnitzel!«, wiederhole ich, »kein Schnitzel …« – bis sie draußen sind.
    Nun untersage ich jeden weiteren Eingriff, streng und hysterisch zugleich. Man lässt sie in Ruhe. Aber es ist keine Ruhe. Es ist ein Todeskampf, den nur jemand führen kann, der ein Leben vorbeigleiten sieht, das ein einziger Kampf gewesen ist. Ich stehe am Eisenbett der Intensivstation. Es ist schrecklich mit anzusehen. Ich bin allein.
    Ich weiß, dass es zu Ende geht, aber wie in Zellophan gepackt, begreife ich nur partiell. Am Telefon halte ich Kontakt zur Außenwelt. Erzähle Georg, der in Berlin die Kinder hütet, was meine Mutter stammelt, während sie leidet. Beschreibe Tine, wie die Nahrung tropfenweise durch den Schlauch herabfällt, wie die Apparate piepsen, wie es riecht. Ich bin mehr als verzweifelt. Meine Freundin aus Köln begreift, kommt und sorgt dafür, dass ich schlafe und esse. Vor allem stellt sie sich am Krankenbett hinter mich.
    »Sprich mit ihr«, flüstert sie.
    »Was?«
    »Sag was, irgendwas.«
    »Ich weiß nichts.«
    »Sprich von früher.«
    »Ich war im Internat. Wir haben nicht zusammengewohnt.«
    »Von den Ferien.«
    »Wir waren nie zusammen in Ferien.«
    »Mein Gott! Sag Kochrezepte auf.«
    »Meine Mutter hasste kochen!«
    Mein Kopf ist leer wie ein Schuhkarton. Unser schwieriges Verhältnis ist nicht aus der Welt, obwohl dieser geschundene Menschenkörper tiefstes Mitleid in mir weckt. Ich stammele zwei, drei Worte auf Kroatisch. Es ist mir lieber, dass mich keiner versteht. Meine Mutter scheint sich zu beruhigen. Und in meinem rudimentären Exjugoslawisch erzähle ich ihr zum ersten Mal, was mir so alles durch den Kopf geht über sie, über uns.
    Es stimmt nicht, dass wir nie zusammen im Urlaub gewesen sind. Meine Eltern holten mich jede Sommerferien aus dem Internat, in dem ich inzwischen untergebracht war, und fuhren mit mir nach Italien, im Renault an die Riviera. Es waren schöne Ferien – italienisch eben. Wir hatten ein Lieblingsspiel: Ich flirtete mit den Kellnern im Hotel, und meine Eltern freuten sich, wenn wir das Essen als Erste serviert bekamen.
    Manchmal kam meine Halbschwester aus Zagreb dazu. In einem Sommer waren wir wie besessen von der Idee, dass unser Vater zwischen ihrer und meiner Mutter noch eine Fraugehabt hatte. Ich war 14, meine Schwester 28. Wir malten es uns so ausgiebig aus, bis wir felsenfest davon überzeugt waren. Schließlich fragte ich meine Mutter, ob es möglich sein könne, dass mein Vater noch eine andere Frau geliebt habe. Ich wurde ins elterliche Schlafzimmer zitiert und bekam eine ordentliche Standpauke. »Du plapperst alles deiner Schwester nach. Sie ist eifersüchtig und du bist pubertär!« Ich versuchte erst sie zu verteidigen, dann mich. Vergeblich. Meine Schwester wurde nach

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