Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Hause geschickt. Es waren noch schöne Ferientage.
Stundenlang stehe ich so am Bett meiner Mutter. Mal rede ich, mal schaue ich entsetzt ihrem Todeskampf zu. Ich denke an Tito, dem man auch kurz vor seinem Tod ein Bein amputiert hat. Meine Mutter wirft sich hin und her. Sie geht durch ihr Europa von 1924, als sie in Zagreb geboren wurde, bis heute, hier in diesem Krankenhaus, achtzig Jahre später. Was sie sieht, scheint ihr keine Freude zu bereiten.
Im Gorki Theater in Berlin beginnt man sich zu sorgen, schließlich soll »Trauer to go« pünktlich zum 9. November herauskommen. Tine beruhigt mich, was ist schon Theater gegen den Tod? Tod? Ich weiß gar nicht, was sie meint …
An Jom Kippur sieht es so aus, als würde meine Mutter sterben. Man hat mir beigebracht, sie zu waschen, sie wie ein Baby zu reinigen, ihre Haut ist seltsam weich wie die einer jungen Frau. Ich drehe ihren nackten Körper mit dem fehlenden Bein zur Seite. Der Stumpen ist geschwollen und bläulich. Eine grausame Asymmetrie. Ihre Wangen glühen, sie hat Fieber. Ich habe schreckliche Angst, bei ihrem Tod dabei zu sein, und ebensolche Panik wegzugehen.
»Du gehst in die Gemeinde«, sagt Raffi betont ruhig am Telefon. »Und zwar jetzt. Heute sind alle da und beten. Für Krisen sind die Juden ideal. Bei anderen Situationen bin ich mir da nicht so sicher. Aber in einer Notsituation, wie du sie hast, werden sie wunderbar sein.«
Ich gehe und hole Hilfe. So verlegen wir an diesem Jom Kippur die Gebete ins Krankenzimmer.
Sie stirbt zehn Tage nach der Amputation. Ich bin nicht dabei. Genauso, wie ich bei meinem Vater nicht dabei gewesen bin. Aber ich habe ihr in meinem Kinder-Jugoslawisch alles erzählt. Man sagt mir, sie habe geweint, als sie ging.
Hör zu, mein Kind: Am Lager war ein Zaun. Ein Stacheldrahtzaun. Er ging einmal um das ganze Lager herum. Dahinter waren die Baracken und in der Mitte stand ein Turm. Eine Art Wachturm. Die Wache patrouillierte vorne am Stacheldraht. Hier, eine Zeichnung vom Lager Rab. Die Zeichnung ist gut, finde ich. Ich habe sogar eine Fahne gezeichnet. Stoffe zu zeichnen ist schwer, genauso schwer wie Hände. Die Nr. 589 ist meine Nummer, auf die habe ich zu hören. Ich bin 19 und seit zwei Jahren im Lager. Es gibt einige Porträts, die mir geglückt sind. Zum Beispiel das von meiner Cousine Blanka Weinreb. Darunter hab ich geschrieben: Schön und unglücklich!
1943 kündigten die Italiener ihr Bündnis mit den Deutschen auf, sie öffneten plötzlich das Lager. Wir hatten nur zwei Tage Zeit, von der Lagerinsel zu fliehen. Alle, die unschlüssig waren oder nicht wussten, wohin sie gehen sollten, wurden verraten und von den einrückenden Deutschen umgebracht. Deine Tante ist mit einem italienischen Soldaten nach Norditalien, nach Mantua. Schön blöd. Er hat sie dort versteckt und sie hat ihn aus Dankbarkeit geheiratet. Nur aus Dankbarkeit – noch blöder!
Ich ging mit deiner Großmutter zum Hafen und wartete, dass uns ein Schiff mitnimmt. Die Partisanen sind gekommen, haben unser ganzes Gepäck durchwühlt und die Hälfte mitgenommen. Und meine Stifte, meine Farbstifte, die haben sie auch mitgenommen. Das kann ich denen nicht verzeihen! Sie luden uns auf Schiffe und brachten uns erst mal auf die Insel Vis. Stell dir vor, auf Vis habe ich deinen Vater wiedergetroffen! Er versuchte mich zu überreden, gleich zu den Partisanen zu gehen, aber ichhab nicht gewollt. Das mit den Stiften war zu arg. So bin ich zuerst nicht mit den Partisanen gegangen, sondern zusammen mit deiner Großmutter zu den Alliierten nach Süditalien. Mit einem kleinen Boot, sieben Tage und Nächte lang. Nachts sind wir gefahren, tagsüber haben wir uns in kleinen Buchten versteckt. Der Himmel war voller Flieger, das Meer voller U-Boote. Ja, so war das. Aber trotzdem hatten wir wenig Angst, denn wir waren frei! Süditalien war schon befreite Zone – Santa Maria di Leuca – schön da. Deine Großmutter hat im jüdischen Krankenhaus gearbeitet, ich wollte nicht. Ich habe übersetzt, bei den Amerikanern. Ich wollte nie mehr jüdisch sein …
Deine Tante hockte auf dem italienischen Dachboden, zuckte bei jedem Klingeln zusammen. Da war es mir lieber, an vorderster Front bei den Amerikanern und Engländern zu stehen. Ich habe Funksprüche übersetzt und war bei den nächtlichen Überfahrten in das noch besetzte Kroatien dabei, leitete sogar eine Zeit lang ein Kinderheim mit Kindern von verwundeten Gefangenen oder getöteten Partisanen …
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