Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Später hat eine Kommissarin heimlich mein Tagebuch gelesen, war schwer beeindruckt von meiner kommunistischen Gesinnung, na ja, und hat mich dann doch noch für den Widerstand gewonnen.
1944. Frei. Frei zu gehen. Thea, meine Mutter, konnte es nicht fassen. Sie verließ die Amerikaner in Süditalien, nahm ihre Mutter mit und war als eine der Ersten zurück in Jugoslawien, in Split, das schon befreites Territorium war. Sie wurde sofort aktives Parteimitglied, reiste in die bereits befreiten Zonen, suchte Unterstützung bei der Bevölkerung, war Delegierte auf Kongressen, stolz auf ihre Position.
Titos Partei war gut zu ihren Anhängern und Thea eine feurige Anführerin. So hatte sie dem Faschismus etwas entgegenzusetzen, der ihr so viel Familie, so viel Kindheit, so viel Leben gestohlen hatte. Keine Zeit, sich in Klagen zu verlieren. Sie verwandelte ihre ganze Trauer in immense Arbeitswut. Vier Ziele hatte sie: Studieren, reisen, heiraten – und ein Kind.
In Split holte sie das Abitur nach. Es war kalt in der Wohnung, also verlegte sie das Lernen in die Bibliothek – sie war eisern. Schließlich hatte sie überlebt. Klein und zäh, konnte sie sich und andere kaum schonen, weder beim Straßenbau in Titos Brigaden noch bei den stundenlangen Parteisitzungen. Nie wieder wollte sie als Jüdin so leiden. Und nie wieder würde man sie schlecht behandeln, weil sie eine Jüdin war. Jetzt nahm sie die Zügel selbst in die Hand.
Später würde sie studieren, Architektin werden, dann den Mann heiraten, den sie mit dreizehn kennengelernt hatte und dem sie damals bei diesem merkwürdigen Purim-Ball in der Gemeinde in Zagreb ihre Treue geschworen hatte. Es schien Jahrhunderte her zu sein. Jakob war mittlerweile verheiratet. Unglücklich, wie ihr schien. Seinen Charme hatte er nicht eingebüßt, obgleich er inzwischen ein hoher Parteifunktionär war. Sie trafen sich in Split wieder, es war der 8. Mai. Kriegsende. Ein schöner, noch frischer Frühlingstag. Zur Feier des Tages ging die gesammelte Brigade in Bačvice baden. Auch Thea mit Jakob, bevor er wieder abreiste. Meine Mutter konnte warten. Es gab viel zu tun beim Aufbau des sozialistischen Staates. Er schrieb ihr regelmäßig, kam zu Besuch, hatte immer einen Witz auf Lager. Anscheinend konnte er die kleine Partisanin ebenso wenig vergessen wie sie ihn. Wie viel seine Ehefrau davon wusste, mochte sich Thea gar nicht so genau vorstellen.
Sie konnte warten und sie war zielstrebig.
Das weiß ich nun genau. Sie hat studiert, ihren Jakob geheiratet und ein Kind bekommen. Manchmal frage ich mich, wie sie gewesen wäre, wenn sie nicht alles so konsequent verdrängt hätte. Wahrscheinlich waren ihre Erlebnisse so grauenhaft, dass sie es nicht verkraftet hätte, sie noch einmal zu durchleben, nicht einmal in der Erinnerung.
Das Telefon reißt mich aus meinen Gedanken. Mit einem penetranten Klingeln meldet sich die Gegenwart zurück.
»Hallo? Hallo? Frau Altaras? Adriana? Bist du am Apparat? Hier ist Olga aus dem Vorstandsbüro der Gemeinde Gießen. Hörst du mich? Unser herzliches Beileid zum Tode deiner Mutter. Sie wird uns als Mensch, aber auch als Gemeindevorsitzende fehlen. Wir müssen dir mitteilen, dass du deine Frau Mutter innerhalb von 24 Stunden zu beerdigen hast. So ist es Brauch, so muss es sein. Wenn du unsere Hilfe benötigst, stehen wir dir gerne zur Verfügung, allerdings wird es mit Sukkotbeginn schwierig …«
O nein! Geht das schon wieder los?! Müssen meine Eltern immer so unpassend sterben?
Das Beerdigungsinstitut weigert sich standhaft, meine Mutter direkt zu beerdigen, da in Hessen 48 Stunden Leichenaufbewahrungsfrist gilt. Dann allerdings beginnt das Laubhüttenfest, das im Exil zwei Tage lang gefeiert wird. Die Laubhütten sind schon errichtet, die Gläubigen beginnen sich einzurichten, um in diesen Hütten zu sitzen, sogar zu übernachten. Das aber vor allem dort, wo es etwas wärmer ist als in Deutschland im Oktober. Die jüdische Gemeinde Frankfurt stellt großzügig ein Schreiben aus, in dem sie erlaubt, am zweiten der beiden Feiertage zu beerdigen, schließlich sei Sukkot in Israel schon nach eineinhalb Tagen zu Ende. Der Ersatzrabbiner, unser Kantor (der Mann mit Alditüte und goldener Stimme), glaubt dem Schreiben aus Frankfurt nicht. Er will auf keinen Fall gegen die Halacha verstoßen, außerdem sei dann Freitag 15 Uhr, um 17 Uhr beginne der Sabbat – undenkbar, da zu beerdigen. Was würde Gott sagen? Und da er zu Fuß gehen müsse, würde
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