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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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er es sowieso nicht rechtzeitig schaffen. Also gut, dann Sonntag. Am Sonntag beerdigen die Christen nicht. Ausgerechnet ist dieser Sonntag auch noch der 3. Oktober, Tag der Deutschen Einheit und Erntedankfest.
    Bleibt der Montag: Ja, Montag, raunt da der Chor des jüdischen Gemeindevorstands, Montag, das sei eindeutig zu spät. »Zu spät«, stammele ich.
    »Wie, zu spät?« Mein Mann greift ein. Ich hätte nie gedacht, dass dieser vorsichtige Mensch sich durch das Rabbinat schreien würde. »Was heißt hier Sünde? Wo bleibt eure Mizwa? Da sitzt die Tochter und will um ihre Mutter trauern, sie in Würde beerdigen und ihr könnt nicht zum Friedhof laufen, weil ihr an euren angeblichen Regeln kleben müsst! Am Freitag um 15 Uhr wird beerdigt, der Kantor wird gefahren, um 17 Uhr ist Schluss.«
    »Nein! Nein!«, jammert dieser am Telefon. »Die Räder. Die Räder bewegen sich doch auch. Sie dürfen sich nicht bewegen …«
    Es sieht so aus, als würden wir meine Mutter nicht mehr unter die Erde bekommen.
    Mein Handy klingelt ununterbrochen. Die Zeitungen, die Universität, der Denkmalschutz, die Architektenkammer, alle wollen den Termin der Beerdigung wissen. »Sie müssen sich entscheiden, so schwer kann das doch nicht sein!« Wenn die wüssten … Mir wird klar, dass ein entspanntes Zusammenleben zwischen Juden und Deutschen die reine Fiktion ist.
    »Was gehen dich die Christen an!?«, sagt man mir im Gemeindebüro. »Beerdige am Sonntag, wir werden sie waschen und den Sarg tragen. Wozu brauchen wir die Goyim?«
    »Tragen? Ihr werdet sie tragen? Vielleicht sollten wir das nochmals üben …?«, bemerke ich im Gegenzug. »Außerdem … wenn sonntags die Christen nicht können, wäre das schade, schließlich leben auch sie hier, sie sind ihre Freunde gewesen, ich meine, sie wollen sich doch auch von meiner Mutter verabschieden – versteht ihr das nicht?«
    »Nein.« Nein, das verstehen sie nicht. Im Tod gehört meine Mutter ihnen wieder ganz allein. Der Oberbürgermeister kommt mir zur Hilfe. Er habe häufig mit meiner Mutter zu tun gehabt, habe sie geschätzt. Gemeinsam hatten sie trotzJuden und Christen den Synagogenbau durchgeboxt. Man werde am 3. Oktober eine Ausnahme machen, den Friedhof samt Bestattern für uns zur Verfügung stellen.
    Und so wird meine Mutter am Tag der Deutschen Einheit beigesetzt, der in diesem Jahr noch dazu auf Erntedank fällt, einen Sonntag. Was mir bei meinem Vater noch undenkbar schien, wird nun Wirklichkeit: Eine deutsche Verwaltung stellt einen christlichen und einen nationalen Feiertag zurück, um meine Mutter zu beerdigen!
    Die Chevra Kadischa hat meine Mutter gewaschen. Sie zeigen sie mir stolz. Der Verfall hat schon begonnen. Ein letzter goldener Zahn schaut noch herausfordernd aus ihrem Mund. Mir wird übel. So also fühlt man sich als Vollwaise. Meine beiden Söhne, Georg und ich sind die einzigen Verwandten, die sie zu Grabe tragen. Ein kleiner, aber zäher Haufen sind wir, bevor mich weinende Gemeindemitglieder hemmungslos umarmen.
    Die Leichenbestatter sind gelernte Träger, der Minister hat auf seine Einheitsfeier verzichtet, die Christen auf ihr Erntedankfest. Eine riesige Menge drängt sich in die Kapelle.
    Später fragen sie mich, wieso das Handy unseres frommen Kantors nicht ausgeschaltet gewesen sei, Verdis Gefangenenchor ertönte laut, mitten in der anrührenden Worte des Vorsitzenden des Vereins für christlich-jüdische Zusammenarbeit …
    Ich sagte, ja, die deutsch-jüdische Zusammenarbeit steckt noch in den Kinderschuhen. Über all das sehe ich hinweg, bin froh, endlich traurig sein zu dürfen. In die Zeitung habe ich schreiben lassen, »Oh, partigiano, porta mi via, che mi sento chi morir«. Und so ist es gewesen: Meine Mutter, die kleine hübsche Partisanin von 1943, ist meinem Vater, dem stolzen Brigadenführer, gefolgt. Er hat sie gerufen und sie ist gekommen.
    Der Leichenschmaus findet in den Gemeinderäumen statt. Die russischen Frauen servieren starken Tee und noch stärkeren Wodka. Die Sonne scheint auf die kleine Synagoge aus Wohra, die meine Mutter hierher gebracht hat, und auf das Gemeindehaus, auf das sie so stolz war. Es ist dunkel, als ich gehe. An der Pforte drückt mir der russische Hausmeister einen Brief in die Hand, den man für mich abgegeben hat.
    Liebe Adriana,
    zur Stunde der Beerdigung Ihrer Mutter sage ich Ihnen, Ihren Buben und Ihrem Mann mein herzliches Beileid. Gern wäre ich jetzt dabei, doch kann ich nicht mehr vom Eingang bis

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