Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
Vom Netzwerk:
zum jüdischen Friedhofsteil laufen.
    Ihr Vater war mir ein Freund. Je länger er nicht mehr da ist, desto deutlicher wird mir das. Wenn ich an Ihre Mutter denke, sehe ich eine kleine Dame mit Rucksack schnell durch Gießen eilen. Je länger sie lebte, desto mehr wuchs meine Hochachtung vor ihr. Sie war, was die Nachrufe verschweigen, eine gute Architektin; das Marburger Klinikum und die Gießener Synagoge zeugen davon. Wie sie die schwere Bürde gemeistert hat, das Werk ihres Mannes hochzuhalten, war einzig. Sie war vielen ein Vorbild, eine Preußin im besten Sinn, die in den letzten schweren Jahren nie gejammert hat. Ich werde Ihre Frau Mutter nicht vergessen.
    Wenn ich etwas für Sie tun könnte, würde ich es immer gerne tun! Ein Anruf oder ein Zettel genügt!
    Ihr Professor Dr. Ringleb, Dekan der Universität Gießen
    Von draußen schaue ich ins Gemeindehaus. Da sitzen die Mitglieder mit ihrem Vorstand und ein paar hartnäckigen nichtjüdischen Gästen und essen Hering mit Zwiebelringen. Die Leere fliegt förmlich durch die Räume. So sterben sie langsam, die letzten Überlebenden, nehmen das alte Europa mit und fürs Erste gibt es keinen Ersatz.
    Die Sache mit dem Sterben hatte in unserer Familie schon immer einen merkwürdigen Stellenwert. Je älter meine Eltern wurden, desto häufiger erhielten sie natürlich Anrufe mit Todesmeldungen. Wenn ich an den Wochenenden zu Hause war und ein Anruf aus dem Ausland kam, klingelte es ein-, zweimal kurz, hörte dann auf, um erneut ein-, zweimal zu läuten. »Wir werden überwacht«, raunten sie mir zu. In der Zwischenzeit rannten sie in Richtung Diele, wo das Telefon auf einem Kabelgewirr thronte. Meistens war es sehr früh morgens – der sozialistische Staat schlief nie lang. »Molim«, meldete sich mein Vater dann laut, er musste über die Frühnachrichten im Radio hinwegbrüllen. Ein Genosse, ein Freund, ein Partisan war tot – Hirnschlag, Herzversagen, Krebs. In der Küche wurde ausdiskutiert, ob der Tod zu früh oder gerade rechtzeitig gekommen war. Wie schade um den Freund, arme Familie – man hatte eine gute Zeit zusammen gehabt. Das war’s. Mehr war nicht zu holen. Manchmal spekulierte man, ob der dazugehörige Ehepartner auch schon tot war. Keiner hatte den Mut nachzufragen. Selten gab es Tränen, immer Kaffee. Das Ganze spielte sich natürlich auf Kroatisch ab. Ab und zu verlor ich den Faden, aber immer dachte ich: ob sie nicht traurig sind? Warum weinen sie nicht? Trauern nicht, verzweifeln nicht, kommen zu spät zur Arbeit …
    Mir fiel der Witz ein, in dem ein alter Mann über den Friedhof spaziert und der Friedhofsvorsteher ihm zuruft: »Bleiben Sie doch gleich hier!«
    Ich dachte, entweder sind sie selbst zu nah dran oder im Exil ist Todesschwäche absolut verboten. Im Exil ist alles schrecklich weit, weit weg und vorbei. Das Exil ist schon ein sehr besonderer Ort.
    Weder mein Vater noch meine Mutter und schon gar nicht ich waren freiwillig aufgebrochen. Aber wir konnten und wollten inzwischen nicht mehr zurück.
    Also musste man sich arrangieren – mit der Sprache, den Gerüchen, dem Essen.
    Wir lernten, dass Nudeln in Milch statt in Tomatensauce schwimmen konnten. Und dass der Salat mit Kondensmilch zubereitet und gezuckert wurde, jedenfalls im Hessen der 60er-Jahre.
    Diejenigen, die zu Hause in der Heimat geblieben waren, die dort hatten bleiben dürfen, lebten ein Stück weit unser altes Leben für uns mit. Das, was wir getan hätten, was wir geworden wären, was wir gegessen hätten, wenn … Und wenn sie jetzt starben, starb ein Teil von uns, von unserem fast gelebten Leben. Ein Teil, den wir schon so lange begraben hatten, denn Heimweh ist im Exil verboten, es macht schwach und krank.
    Sie hatten trotzdem Heimweh, doch nie gestanden meine Eltern sich es ein, nicht vor mir und nicht voreinander.
    So erkläre ich mir die gewisse Gefühlskälte, die sich in unserer Wohnung breitmachte, wenn diese Anrufe kamen, früh am Morgen, mit Nachrichten über gestorbene Freunde, Genossen oder Kollegen.
    Nach der Beerdigung meiner Mutter gehe ich noch einmal in die Eltern-Wohnung. Schließlich muss ich ja dreimal abschließen und die Fenster verriegeln, wie meine Mutter es immer verlangt hat – bestimmte Befehle behalten ihre Wirkung weit über den Tod hinaus. Sie hatte noch Fleisch aufgetaut, ich werfe es weg, lasse aber alles andere so, wie esist. Noch ist sie da, überall. In der Nähe. Sogar das Fleisch hat etwas Intimes. Ein leichter Staub hat sich

Weitere Kostenlose Bücher