Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
dashat ihm sein Vater beigebracht, eine alte, kluge Emigrantenweisheit. Das Exilpatent.
Sie hatte sich enorm eingerichtet! Sie hatte ihr Gebiet abgegrast. Sie hatte alles gesammelt, was dazu gehörte. Jede Information. Jede Aussage. Jedes Fragment. Sie wusste alles. Vielleicht hat sie es nie geliebt, aber gekannt hat sie es genau.
Sie kannte die verfallenen Gebäude, die zu Gast waren in Wabern und Oberursel. In den Dörfern Treysa und Lich. Zu Gast wie sie. Und die sich nun erledigt hatten und verfielen.
Das tat sie auch. Und starb.
Während meine Mutter mit ihrem Clio durch Hessen fuhr, hing mein Vater am Radio. Das war wohl seine Art, mit dem Exil, mit der Situation eines Politikers ohne Staat fertig zu werden.
Es gab keine Zeit, in der mein Vater nicht Nachrichten gehört hätte. Als ich klein war, nahm er immer einen winzigen Weltempfänger mit, auch wenn es nur an den Baggersee von Gießen ging. Er war ständig in Kontakt mit der großen weiten Welt und sie mit ihm. Wenn er sich am offenen Fenster sonnte, wenn er das Ärzteblatt las, selbst wenn er Opern hörte – immer liefen dazu die Nachrichten. Er war informiert, bereit, wenn man ihn gerufen hätte. Ein Reserveoffizier. Wenn es im Telefon ein Knacken gab, holte er meine Mutter. »Wir werden wieder abgehört, der Geheimdienst, sie wissen alles!« Es klang nicht nach einem Spiel, eigentlich hätte er auch Agent sein können. Er erklärte mir politische Zusammenhänge, die ich sofort wieder vergaß. Für sein Hirn waren sie bitterer Ernst, aber auch kreatives Spiel, Denksport, wie für andere Schach. Ein Faible, das David, mein großer Sohn, geerbt hat. Auch ihn beschäftigen Wahlergebnisse in den USA , Korruption in Peru, Gefangenenaustausch in Gaza mehr als seine Hausaufgaben in Mathematik.
Als ich im Jahr 2000 auf der Berlinale als Schauspielerin nominiert war, kam mein Vater angereist, um David zu hüten.Der Jugoslawienkrieg war in vollem Gange. Kaum verließen wir das Haus, saßen die beiden vor dem Fernseher und sahen die Nachrichten und Reportagen, David war fünf, noch heute kennt er die Zusammenhänge zwischen Bosniern, Serben und Kroaten besser als manch einer seiner Lehrer. Jahre später rief er mich zur Schulzeit an, ich war alarmiert: War etwas passiert? Ja, es war etwas Sensationelles passiert: Soeben war Radovan Karadžić festgenommen worden. David beschrieb die Aktion minutiös, als wäre er dabei gewesen. Es wunderte mich, woher er das alles wusste, wo bislang noch nicht einmal das Radio davon berichtet hatte. Er musste seine Quellen haben, wie damals mein Vater. In den Nachrichten am Abend verfolgten wir gemeinsam die Festnahme. Mir fiel vor allem auf, dass Karadžić die gleiche Brille trug, die mein Vater getragen hatte. Es musste sie billiger gegeben haben damals. Ein Restposten …
Mein Vater hätte sicher, so malte ich mir oft aus, eine glanzvolle politische Karriere hingelegt, wenn seine Genossen ihn nicht ausgeschlossen hätten.
Mein Vater ist Leiter des Militärkrankenhauses. Er ist Titos Leibarzt. Mein Vater pflegt den kranken Tito, außerdem ist er sein politischer Berater bei den Problemen, die er hat im Kosovo, in Albanien. Mit Serben und Kroaten, Mazedoniern und Bosniern.
Die Sonne scheint auf die Bucht von Split. Die Mannschaft um Tito ist perfekt. Als er stirbt, übernimmt mein Vater problemlos die Parteispitze. Es ist ungewöhnlich, dass ein Jude so weit nach oben kommt in einem kommunistischen Regime. Jugoslawien geht es gut.
Als die Krisen beginnen, entscheidet sich mein Vater klug fürs Exil in der Schweiz. Eine Zeit lang sieht es so aus, als würde er mit anderen Exilanten das Weltgeschehen aus der kleinen Schweiz heraus lenken. Zentralräte werden gegründet. Sozialismus im Westformat. Nur knapp verfehlt mein Vater die Nobelpreisnominierung. Aber in welcher Kategorie?
Allerdings wird er mit der Ehrendoktorwürde zweier amerikanischer Universitäten ausgezeichnet und bekommt dort eine C17-Professur. Von den Staaten aus kann er die Unruhen in Jugoslawien beobachten, sogar schlichten.
Im November 1993 bricht ein erbitterter Kampf um die berühmte Alte Brücke in Mostar über der Neretva aus. Den Berichterstattungen zufolge stehen sich linksseitig serbische Orthodoxe und rechtsseitig kroatische Katholiken gegenüber. Mein Vater schickt einen Gesandten, der am 13. November nachmittags eintrifft und – man weiß nicht genau, durch was – eine Waffenruhe aushandelt. Geldsummen? Embargos? Nur Kenner der
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