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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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komplizierten Beziehungen der slawischen Volksgruppen konnten so gezielt eingreifen. Zeitlebens wird mein Vater für seine Taten honoriert, eine Stütze der Gesellschaft.
    Eine märchenhafte Vita, zusammengesponnen, wie es kleine Töchter gerne tun: mein Vater, der Held.
    Nach seinem Tod, inzwischen zählte die Jüdische Gemeinde an die 600 Mitglieder, setzte meine Mutter die Arbeit meines Vaters nahtlos fort: Sie übernahm sein Amt, das des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Gießen. Sie tat es mit hundertprozentigem Einsatz, obwohl sie die Aufgabe selbst nicht mochte. Ihr war es zuwider, täglich mit vielen Menschen persönlichen Umgang zu haben. Viel lieber hätte sie allein an ihrem Schreibtisch gesessen und an ihrem Buch weitergearbeitet.
    Mit knapp 80 Jahren regelte sie bravourös, aber widerwillig die Geschäfte. Interne Querelen, schmutzige Machtkämpfe wurden ihr bald zur Hölle. Eine Gruppe russischer Einwanderer kämpfte um den Vorsitz und war in der Wahl der Mittel nicht zimperlich. Sie schienen von der russischen Mafia inspiriert zu sein: Um 4 Uhr morgens bekam meine Mutter Pizzalieferungen, die sie angeblich bestellt hatte, wurde nachts alle zwei Stunden angerufen, bedroht. Ich sorgte mich um sie, batsie inständig, das Amt niederzulegen und nach Berlin zu ziehen. Doch sie lächelte nur und rückte keinen Zentimeter von ihrer Position ab. Die Jüdische Gemeinde war ihr Lebenswerk und das ihres Mannes. Sie war es den anständigen Juden und Nichtjuden, die dies alles mit ermöglicht hatten, schuldig, weiterzumachen, nicht aufzugeben, Widerstand zu leisten. Sie sprach pathetisch und feierlich, als wären wir im Bundestag. Wie ein Mantra wiederholte sie diese Sätze, es war kein Herankommen an sie.
    Nur manchmal, wenn die Drohungen kein Ende nahmen, rief sie mich an, um sich auszusprechen. Gelegentlich, selten, weinte sie – um ihren Mann, um ihr Volk, um ihr Leben.
    »Wir sind ein kleines, aber mieses Volk!« Dann legte sie trotzig auf und machte weiter.
    Ich schlug ihr vor, sich von meiner Astrologin beraten zu lassen. Ich hatte herablassende Ablehnung erwartet, doch ich hatte mich einmal mehr in meiner Mutter getäuscht. Die Astrologin hat diese Telefongespräche aufgezeichnet:
    Wissen Sie, nachts um vier, fünf Uhr plagen mich Bilder. Ich möchte gern schlafen. Aber die Bilder sind zu stark. Solch eine Hoffnungslosigkeit. Ich nehme Tabletten, morgens bin ich völlig zerschlagen. Ich möchte weg, alldem entfliehen, aber ich kann nicht. Ich schaffe es nicht. Ich sollte die Schriftsteller lesen, die ich liebe, die ich so lange vernachlässigt habe. Musik hören. Ich sollte das alles nicht so persönlich nehmen, abstrakter, als ein Drama der Allgemeinheit. Aber ich kann nicht. Ich kann nicht.
    Ich habe keine Lust mehr, keine Kraft. Ich gehe nicht mehr weiter. Ich – diese Bilder! Ich bin wie gebannt von ihnen, erstarrt. Von allem. Was ich gesehen habe. Dabei war ich noch so jung, und alles hat doch so gut angefangen …
    Ich sehe meine Mutter vor mir im Krankenbett, kurz vor ihrem Tod. Nur noch ein Bein zeichnet sich unter der Decke ab.Sie fuchtelt wild mit den Armen, wie um etwas zu verscheuchen. Aber die Bilder lassen sie nicht in Ruhe. Sie schlägt um sich, aber der Feind bleibt.
    Am Ende sterben sowieso alle. Die, die zu Hause geblieben sind, und die Gäste. Die, die ein »anderes« Leben geführt haben, ein geträumtes, und die, die das Leben der anderen katalogisiert haben. Das Gefühl der Leere und Heimatlosigkeit lässt sich nicht aufheben.

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    teta jele
    Die Erbschaft zieht sich hin. Meine Schwester hat sich einen kroatischen Anwalt genommen, der nicht in der Lage ist, ihr das in deutscher Sprache verfasste Testament zu übersetzen und zu erklären. Das sei aber kein Problem, sie hätten gute Kontakte zu deutschen Kanzleien, beruhigte er sie. Der deutsche Anwalt nun schaut sich jede einzelne Quittung der letzten dreißig Jahre an, was dauert. Als ich sie anrief, um die Sache zu beschleunigen, stammelte sie: »Ich weiß nicht, der Anwalt wird schon alles richtig machen, glaubst du nicht?« Nein, das glaubte ich nicht. Der Anwalt würde erst Ruhe geben, wenn sein Eigenheim finanziert wäre.
    Es ist ein heißer Sommer, nicht nur in Berlin. Das Gras in ganz Europa hat eine rostbraune Farbe, die Menschen auch. Die Hitze macht mir weniger zu schaffen als die Mode. Seit Wochen sieht man ältliche Herren in kurzen Hosen, was in den seltensten Fällen vorteilhaft aussieht.
    Meine Mutter fehlt

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