Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
mir. Erstaunlicherweise vermisse ich die bissigen Auseinandersetzungen mit ihr, die Telefonate, die regelmäßig mit Auflegen endeten.
Der Berliner Alltag hat mich eingeholt. Ich gebe mir mehr schlecht als recht Mühe, ihm gerecht zu werden. Häufig telefoniere ich mit meiner Tante. Schließlich gibt es nur noch sie und mich von unserem alten Clan.
»Naniza«, so nennt sie mich, »stell dir vor, was geschehen ist.«
Am Telefon erzählt sie, dass vor einigen Tagen wieder mal bei ihr eingebrochen worden sei und man ein Bild ausgetauscht habe. Es habe hinter dem Sofa gestanden und nun stehe ein anderes, viel hässlicheres dort. Die Schande ist nicht der Einbruch oder der Diebstahl, die Schande besteht darin, dass man sie gedemütigt hat, indem man wohl glaubte, sie würde nicht merken, dass ein teures, schönes Stillleben gegen ein billiges Porträt ausgewechselt wurde.
Sie erstattete Anzeige. Aber die Carabinieri machten ihr wenig Hoffnung. Also beauftragte sie einen Detektiv, dessen Arbeit sich darin erschöpfte, sein Honorar im Voraus zu bekommen – bei Detektiven so üblich –, um sich anschließend nie wieder blicken zu lassen.
Die Schlösser wurden wieder ausgewechselt, reine Routine, einmal jährlich inzwischen. Sie ist wütend, dass man ihr unrecht tut. Immer und immer wieder. Seit 1941. Alles Spätfolgen, denke ich mir, und ob die auch zum Erbe gehören?
Erbschaften sind eine vertrackte Geschichte. Der Tod meiner Eltern hat nicht nur ein Loch hinterlassen, er wirft auch ein völlig neues Licht auf Themen, die mir bisher gleichgültig waren: Nachfolge antreten, Staffelstab übernehmen, erben.
Bis vor Kurzem habe ich mir über das Erben kaum Gedanken gemacht. Jetzt verfolge ich die Lebenswege der Grimaldis und anderer Königshäuser mit Interesse. Sehe, wie Stephanie und Caroline bemüht sind, das Ansehen ihrer Mutter zu erhalten, und es nicht schaffen. Und wenn die Queen einmal stirbt, wird es der arme Charles auch nicht leicht haben. Die Sommer verbringen sie in ihren Sommerresidenzen, die Winter in Schweizer Chalets. Alles geerbt. Erst jetzt fällt mir auf, dass auch sie unbekannte Brüder, geheime Geliebte und haufenweise Twinsets geerbt haben müssen. Ich teile mein kleines Schicksal mit den Großen Europas.
Ich denke über die Möglichkeit nach, das Erbe nicht anzutreten. Die Schwester verleugnen, den möglichen Brudergar nicht erst suchen, wenn ich die Neugierde im Zaum halten kann. Aber schließlich: Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts kann man nicht austreten.
Der Anwalt meiner Schwester interessiert sich inzwischen für den Zeitwert des 26 Jahre alten Mercedes unseres Vaters. Er liegt bei 400 Euro. Ferner forscht er nach angeblichen Aktien bei der Daimler-Benz AG . Keine auffindbar. Er kann sich wohl nicht vorstellen, dass es im Wirtschaftswunderland Deutschland jemanden gibt, der keine Mercedes-Aktien besitzt. Er möchte außerdem die Spendenquittungen für den Bau der Synagoge der Jüdischen Gemeinde einsehen. Ich gebe ihm die Telefonnummer der Stadtverwaltung Gießen. Vielleicht haben hessische Beamte mehr Verständnis für diesen Exzess deutscher Gründlichkeit. Ich bin ungeduldig, dränge meine Schwester, zu einem Abschluss zu kommen. »Lass doch, Nana. Solange der Anwalt arbeitet, ist Papa noch bei uns!« Wirklich eine sehr spezielle Art zu trauern.
Die Erderwärmung hat Berlin mit tropischer Hitze erreicht. Im Fernsehen diskutieren Wissenschaftler darüber, ob man in Deutschland die Siesta einführen soll. Ich warte nicht auf das Ergebnis und fange schon mal an. Die Hitze ist ungewöhnlich für Deutschland, aber klar ist: Man tut gut daran, sich langsam an sie zu gewöhnen. Es ist ein wenig wie in Miami, schwül und feucht. Mir wird schwummrig.
Naniza, du musst wissen, dass wir eine große Clique waren, zwanzig, fünfundzwanzig Jungs, ebenso viele Mädchen. Der Arthur Finzi und der Samuel Stein, fesche Jungs. Die Deutschen sind gekommen, die Ustascha haben sich ihnen angeschlossen. Unsere Jungs haben alle auf den Berg hinaufmüssen … ich hab gedacht, das Herz wird mir zerspringen … ich hab sie ja alle gekannt. Keiner kam zurück vom Berg … den Leuchter hatten wir im Garten bei Teta Katha vergraben … Den Schmuck aber haben wir zur Aufbewahrung verteilt. Später, nach dem Krieg,sehe ich: die Nachbarin, sie trägt meine Brosche. Ich sage: Das ist meine Brosche, und sie lacht mich nur aus!
Der Fritz! Wenn man noch einmal von vorne anfangen könnte … das
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