Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie
Francis, geschrieben am 6. August 1951 in Nairobi in deutscher Sprache, jedoch mit einer Schreibmaschine, die die deutschen Umlaute nicht beherrscht:
Liebe Tante Hermine!
Vor drei Tagen erhielt ich einen Brief von Leo, worin er mir die freundliche Nachricht Eures Wohlbefindens mitteilte und mir Eure Adresse übermittelte. Ich glaube, ich kann nicht in Worten ausdruecken, wie ich mich darueber gefreut habe, nachdem ich glaubte, daß leider niemand von unserer großen Verwandtschaft am Leben geblieben ist.
Vor vielen Jahren ist in Tanganjika ein Jugoslawe aufgetaucht. Er war von Zagreb und dieser Idiot hat mit Namen alle meine lieben Verwandten aufgezaehlt, die in der schrecklichen Zeit des Krieges ums Leben gekommen seien. Darunter wart auch ihr.
Ich habe vor Freude zu heulen begonnen, wie ich Leos Brief erhielt. Bitte schreibt mir ueber Euer Wohlbefinden, und wo ihr die ganze Zeit verbracht habt, und wer alles sich womöglich noch gerettet hat.
Jetzt werde ich Euch kurz berichten, wie es mir seit meiner Auswanderung aus Oesterreich ergangen ist: Im Jahre 38 sind wir in Cypern gelandet und waren dort für 3 Jahre. Ich habe sehr schoen als Schneiderin verdient. Leider haben wir damals unseren armen Eltern nicht helfen koennen, da wir nur temporary visas hatten. Julka war in der Zwischenzeit in Australien gelandet, und gerade, wie sie es fertigbrachte, fuer die Eltern die Einreise dorthin zu bekommen, brach der Krieg aus, und unsere armen Eltern konnten Wien nicht mehr verlassen. Sie sind 3 Jahre spaeter in einem Konzentrationslager ums Leben gekommen. Das erfuhr ich erst sehr viele Jahre spaeter durch Red Cross. Das Geld hat eine große Rolle gespielt, da die Eltern nicht ohne einen Heller auswandern wollten. Als wir mit zehn Mark in der Tasche aus Wien wegfuhren, hatte Papa noch seine Pension, und als wir endlich etwas machen konnten, war es bereits zu spaet. Weißt du noch, wie wir bei ihm spielten in der Serviettengasse?
In Cypern blieben wir bis 1941. Dann wurden wir in wilder Hast evakuiert und kamen nach Palaestina. Aber leider gab man uns dort auf keinen Fall eine Aufenthaltsgenehmigung, und nach 6 Monaten hatten wir dieWahl zwischen Tanganjika oder Nyassaland in East Africa.
Der Brief ist in blauen Lettern getippt und endet mit:
Also, der Brief nimmt mich mit Unterbrechung schon den ganzen Tag in Anspruch. Jetzt hoere ich auf und warte mit Sehnsucht auf recht ausfuehrliche Nachricht. Ich hoerte vom Onkel, daß Du in Jugoslawien lebst: Kann ich vielleicht auch Dir irgendwie behilflich sein?
Erst 1951 erfährt auch meine Großmutter, dass nicht alle tot sind. Dass verstreut noch der eine oder andere lebt. Kleiner Trost im großen Desaster.
Unter dem Brief liegen ein kroatischer antifaschistischer Ausweis meiner Großmutter und Essensmarken. Sie ist bettelarm, bittet in mehreren Anträgen die kroatische antifaschistische Regierung um die Rückgabe ihres Vermögens. Aber keiner fühlt sich zuständig. Außerdem herrscht jetzt Sozialismus, und da gehört das Vermögen allen, vor allem der Arbeiterklasse. Ganz sicher nicht der jüdischen Weltherrschaft. Sie fädelt Perlen auf für ein paar Groschen, ich finde einige Lohnquittungen. Sie schlägt sich durch. Als ihre Tochter Thea nach Deutschland auswandert, bleibt sie zunächst in Zagreb. Theas Briefe kommen aus Gießen, Jelkas aus Mantua. Beide bitten ihre Mutter, zu ihnen zu kommen.
1965 bemüht sich meine Großmutter gleich um zwei Aufenthaltsgenehmigungen: in Italien bei der einen Tochter, in Deutschland bei der anderen. Auch ärztliche Befunde häufen sich: Schwächezustände, Osteoporose – Spätfolgen. Sie erhält eine Ausreisegenehmigung für Deutschland und wird imUniversitätskrankenhaus in Gießen, in dem inzwischen mein Vater arbeitet, untersucht. Von nun an lebt sie in Gießen.
1970 beginnt sie, krank und anfällig, einen ausführlichen Briefwechsel mit der Eidgenössischen Justizabteilung, Meldestelle für Vermögenswerte, Schweiz.
Hermine bittet um die Aushändigung des Geldes ihres Onkels Ludwig, das sich auf Konten einer Schweizer Bank befindet.
Sehr geehrte Herren,
mein Onkel Ludwig Lausch aus Ludbreg/Jugoslawien lebte in Zagreb (Jugoslawien), Djordjicéva 7, bis zu seiner Deportation in das Lager, wo er starb. Er war ein wohlhabender, reicher Mann und hatte Geld in Schweizer Banken. Seine Frau Lilly Lausch, die Tochter Zora Konrad, geb. Lausch aus Varaždin, der Sohn Artur und das Enkelkind wurden schon 1941 in das Lager
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