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Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie

Titel: Titos Brille – Die Geschichte meiner strapaziösen Familie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adriana Altaras
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verschleppt und getötet.
    Der verstorbene Ludwig Lausch war der Bruder meines Vaters Samojlo Lausch aus Bjelovar. Ich, die Tochter seines Bruders, bin die einzig überlebende Erbin. Mir sind aber die Bank, die Höhe der Geldanlage sowie die Kontonummer nicht bekannt.
    Die Schweizer Seite antwortet 1971 umständlich, aber genau:
    In Beantwortung Ihrer Anfrage vom 22. Mai 1970 senden wir Ihnen beiliegend unsere Orientierung über die Bedingungen des oben genannten Erlasses. Für jeden einzelnen angeblichen Vermögenseigentümer (gilt auch für Ehepaare) ist ein separates Formular zu verwenden.
    Und so weiter.
    Hermine füllt die Formulare aus. Meine Mutter hat die Kopien archiviert. Ihre Schrift ist unregelmäßig und krakelig. Sie will es wissen. Wo ist das ganze Vermögen hin?
    Sie erhält am 30. 6. 1972 Antwort aus der Schweiz.
    Wir teilen Ihnen mit, daß wir in unserem Register die entsprechenden Nachforschungen angestellt haben. Soweit nachweisbar, sind uns von den gesetzlich zur Anmeldung verpflichteten Verwahrern (Banken, Versicherungsgesellschaften etc.) bis heute weder Vermögenswerte irgendwelcher Art noch Schrankfächer mitgeteilt worden.
    Hochachtungsvoll, Eidgenössische Justizabteilung — Meldestelle für Vermögen verschwundener Ausländer oder Staatenloser
    Betreff: Artur Lausch, Ludvig Lausch, Cilly Lausch geb. Friedrich, Zoa Konrad geb. Lausch sowie das Enkelkind Kukica Konrad.
    Es gibt also keine Vermögenswerte in der Schweiz. Noch nie? Nicht mehr? Hat sich meine Großmutter geirrt? Haben Schweizer Banken oder Versicherungen die Vermögen nicht gemeldet, also unterschlagen? Ich finde keine Antwort. Meine Großmutter auch nicht.
    Die Sterbeurkunde von Hermine Fuhrmann ist auf den 31. 1. 1973, 14.45 Uhr, datiert. Ich erinnere mich, dass es sehr kalt war, als mich meine Eltern von der Schule abholten und wir zur Beerdigung der Baka fuhren. Ich war 13 und mehrpubertär als traurig. Hermine liegt auf dem kleinen jüdischen Abschnitt IV des ansonsten christlichen städtischen Friedhofes in Gießen, dort, wo meine Eltern nun auch liegen.
    Ich schaue hoch. Mir laufen die Tränen unter der Lesebrille herunter. Mein Anti-Staub-Mundschutz ist nass. Ich sehe aus wie ein Zombie, ein Untoter zwischen all den Toten.
    Mein Mann steht kopfschüttelnd in der Tür: Es ist 6 Uhr morgens.
    »So geht das nicht. Du musst irgendeine Form von Distanz aufbauen, sonst gehst du drauf!«
    Ich nicke ergeben, niese. Der Mundschutz ist durchweicht und unwirksam.
    »Hier«, er reicht mir das Telefon. »Raffi ist am Apparat, er sagt, es sei dringend. Was ist mit euch, braucht ihr Juden jetzt neuerdings keinen Schlaf mehr?«
    »Warum hast du angerufen?«, fragt mich Raffi schnell.
    »Nichts. Es ist nichts passiert. Brauchst dir keine Sorgen zu machen. Es ist wirklich nichts Schlimmes passiert. Ich habe gelesen. Ich habe in zwei Tagen 12 Jahre Naziregime, 25 Jahre jugoslawischen Sozialismus und 20 Jahre BRD durchlebt, anhand von Unterlagen, Briefen und Dokumenten aus zwei alten hellbraunen Lederkoffern. Mir geht’s gut …«
    Langsam schließe ich die beiden Lederkoffer. Es war der 13. Oktober, als ich in den Keller gestiegen bin, um sie raufzuholen. Der 13. Oktober, ein Glückstag für die Chassidim. Und für mich?

[Menü]
    die macht der gewohnheit
    Die Premiere von »Die Macht der Gewohnheit« findet an einem verschneiten Novemberabend statt. Mein Mann hat die Theatermusik arrangiert, ich darf den Abend nicht verpassen. Meine Tante aus Italien ist zu Besuch, sie kommt mit, obwohl wir nicht sicher sind, ob ihr Thomas Bernhard wirklich liegen wird. Ich habe das Stück noch nie gesehen, es wird selten gespielt. Bernhard verlangt nach besonderen Schauspielern.
    Georg hat von den Proben schon einiges erzählt: Er hat sich als Orchester ein Quintett russischer Akkordeonisten ausgesucht: sehr viel Seele, sehr virtuos. Der Hauptdarsteller des Stücks, ein Berliner Theaterstar, will jedoch in den Momenten, in denen er spielt, von den Musikern, die pausieren, nicht gestört werden. Er will, wie er betont, nicht in deren »tote Augen« schauen. Nichts soll ihn oder von ihm ablenken. Deshalb werden die Musiker sofort nach jeder Nummer mit der Drehbühne aus der Sichtlinie befördert. Das klappt in der Regel gut. Verhakt sich allerdings die Drehbühne, geht der Hauptdarsteller mitten im Satz ab und kehrt erst nach mühsamer Intervention des Intendanten an seinen Arbeitsplatz zurück. Nur wenn absolute Konzentration und Ruhe herrschen,

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