Tochter der Insel - Historischer Roman
stand. Sie sog sich an den Buchstaben fest. Keuchend griff sie nach dem ersten Umschlag und zog mit fieberhafter Eile den Bogen hervor. Ihr Herz raste. Es war Rebekkas Schrift! Dies waren Briefe von ihr! Großmutter musste sie in Bremen abgefangen haben.
Deshalb also ist sie Monat für Monat in die Stadt gefahren, dachte Lea und spürte, wie es hinter ihren Schläfen zu pochen begann. Wie hatte Großmutter ihr das nur antun können! Das Wissen um diese Herzlosigkeit brachte Lea zum Beben. Es war ein unmenschlicher Betrug gewesen, ihr Rebekkas Briefe vorzuenthalten. Großmutter hatte doch gesehen, wie das Warten sie zermürbte! Lea schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es schmerzte.
Sie sprang auf, trat zum Feuer und blickte, ohne etwas wahrzunehmen, in die züngelnden Flammen. Doch so schnell, wie sie gekommen war, verrauchte ihre Wut wieder und machte einer tiefen Verzweiflung Platz. Großmutter hatte es nicht aus Bosheit getan. Sie hatte verhindern wollen, dass Rebekka auch weiterhin ihren, wie sie glaubte, schlechten Einfluss auf Lea ausübte. Vielleicht hatte Großmutter auch Angst gehabt, sie könnte genau wie Rebekka die Insel verlassen. Es würde keine Antwort geben. Großmutter war tot. Lea wandte sich vom Feuer ab und wieder den Briefen zu.
Ihre zitternden Finger griffen nach dem ersten Bogen und falteten ihn auf. Er war datiert auf den 16. Juli 1852. Zehn Tage, nachdem Rebekka die Insel verlassen hatte. Sie musste ihn auf dem Schiff geschrieben haben! Lea begann begierig zu lesen.
Meine liebe Lea,
heute sind wir endlich einem Schiff begegnet, dem ich meine Zeilen mitgeben kann. Wenn dieser Brief dich erreicht, dann bin ich vielleicht schon längst in New Orleans. Manchmal kann ich es kaum glauben und kneife mich in den Arm, um zu sehen, ob ich aufwache. Doch es ist wirklich wahr: Ich reise der Sonne entgegen!
Die Unterbringung auf der Columbia ist nicht die beste. Es ist eng hier und karg. Um das ganze Zwischendeck läuft eine Reihe Betten, mehrere nebeneinander und je zwei übereinander. Wir sind wie Heringe gepackt. Man stolpert ständig über Kleider und Hausrat. Mit Arne kann ich nur tagsüber zusammen sein. Da wir noch nicht verheiratet sind, schlafe ich im Abteil für ledige Frauen.
Ich habe dir eine Zeichnung von Arne beigefügt. Er ist einfach wunderbar, hat immer ein Lachen auf den Lippen und lässt sich von niemandem etwas sagen. Wenn ich mit ihm zusammen bin, dann scheinen sich alle Probleme in Luft aufzulösen. Arne sagt, er weiß immer ganz genau, was er will, wenn es ihm über den Weg läuft. Und mich hat er gewollt. Es blieb nur keine Zeit, lange zu werben und mich zu überzeugen. Und so hat er mich einfach in die Arme geschlossen und geküsst. Ist das nicht herrlich gefühlvoll? Ich habe ihn gefragt, warum er überhaupt nach Wangerooge gefahren ist. Du kannst dir seine Antwort nicht vorstellen. Er wollte nur mal kurz ergründen, wie es sich anfühlt, auf einer Insel zu sein, ganz von Wasser umgeben und immerzu Ebbe und Flut um sich her.
Lea konnte ihre Neugier nicht bezwingen und wandte sich dem Porträt am Ende des Briefes zu. Sie studierte die Zeichnung des Mannes so eingehend, als könne sie ihr dessen Charakter verraten. Er sah jungenhaft und unbeschwert aus. Sein voller Mund wirkte leidenschaftlich und war zu einem Lächeln verzogen, so, als ob er sich gerade köstlich über etwas amüsierte. Lachfältchen umrahmten seine Augen wie Sonnenstrahlen. War dieser Mann sich seiner Verantwortung für Rebekka bewusst? Sie hatte in der Neuen Welt niemanden außer ihm.
Arne bewirtschaftet zusammen mit seinem Bruder Joris eine Farm in der Nähe von Quincy. Es gab einen Nachlass zu regeln, deshalb hat Arne die Reise in die alte Heimat angetreten. Arne ist der jüngere der beiden Brüder und das schwarze Schaf in der Familie. Mit Schule hat er nichts im Sinn gehabt, war jahrelang auf der Walz und hat viel von der Welt gesehen. Joris dagegen muss ein schlauer Kopf sein. Er ist an einer Tierarzneischule ausgebildet worden. Joris war politisch sehr aktiv und hat versucht, die Verhältnisse im Land zu ändern. Mit Gesinnungsgenossen ist er diesbezüglich sogar den König von Hannover angegangen. Das Ende vom Lied war eine Inhaftierung wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung. Arne hat ihn aus dem Gefängnis befreit, und die beiden sind dann nach Amerika geflohen. Du merkst, ein bisschen was von der Familiengeschichte habe ich Arne schon entlocken können.
Ach herrje, die Glocke
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