Tochter der Insel - Historischer Roman
gleich, dass ich dieses Fleckchen Erde lieben werde. Alles sieht so unberührt aus, als habe Gott es gerade erst geschaffen. Die Pfade sind holprig. Du glaubst nicht, wie sehr ich jede Meile in den Knochen gespürt habe. Auf dieser Strecke habe ich das Fluchen gelernt. Ach Lea, ich war am Ende der Reise so müde und hoffte auf ein freundliches Willkommen. Doch wie sehr habe ich mich getäuscht!
Es fing schon mit der Farm an, die ich mir ganz anders vorgestellt habe. Mein neues Zuhause ist nicht viel besser als der Gasthof, in dem Arne und ich die erste Nacht verbracht haben. Eine Hütte aus behauenen Baumstämmen, deren Ritzen mit Lehm verschmiert sind. Das Dach ist mit Grassoden gedeckt. Einfacher noch als die schlichteste Fischerkate auf der Insel. Ich war enttäuscht, und meine Niedergeschlagenheit hat dann auf Arne abgefärbt.
Es wurde nicht besser, als Joris auf einem Pferd herangeprescht kam. Auch ihn habe ich mir anders vorgestellt. Mit dem großen ledernen Hut und den hohen Stiefeln wirkte er weiß Gott nicht wie ein Gelehrter, sondern eher wie ein Cowboy. Er sprang vom Pferd und blieb vor uns stehen. Ich habe ihn angestarrt und er mich. Kein Gruß kam über seine Lippen.
»Was will sie hier?«, fragte er. Kannst du dir das vorstellen?! Er sprach über mich, als sei ich gar nicht da. Arne wurde ein bisschen verlegen. Doch dann hob er den Kopf und sagte:»Sie kommt von der Nordseeinsel Wangerooge. Lea ist ein wunderbares Mädchen. Du wirst sie mögen.«
»Du schickst sie am besten gleich wieder nach Hause«, schlug dieser ungehobelte Klotz vor.
Ich schäumte vor Wut und sagte: »Ich bin weder mit Taubheit noch mit Stummheit geschlagen! Außerdem werde ich nicht wieder von hier verschwinden. Ich bin Arnes Frau.«
Der Cowboy hat mich angestarrt wie ein neues Weltwunder, sich umgedreht und ist einfach davongeritten. Ich kann ihn nicht ausstehen.
Joris ist noch am gleichen Tag ausgezogen. Ich bin froh darüber, Abstand zu ihm zu haben. Der Mann ist so wild und rau wie das Land. Er kommt mir seltsam ruhelos und unberechenbar vor. Joris provoziert mich, wo er nur kann. Er wartet darauf, dass ich innerhalb kürzester Zeit von hier verschwinde. Doch diesen Gefallen werde ich ihm nicht tun!
Lea, ich habe jetzt ein neues Zuhause. Bitte schreibe mir bald, denn ich brauche einfach ganz dringend ein paar aufmunternde Worte. Beigefügt habe ich dir einige Zeichnungen, darunter auch eine von Joris. Du kannst immer so gut in meinen Bildern lesen. Was sagt dir das Porträt?
Einen lieben Gruß aus der Ferne
Rebekka
Lea blickte auf den Brief in ihrer Hand. Er war vor so langer Zeit geschrieben worden und es hatte keine Antwort darauf gegeben. Tränen verschleierten ihr die Sicht. Wie sehr mochte Rebekka auf ein Wort von ihr gewartet haben. Hatte sie geahnt, dass die Briefe nicht angekommen waren, oder dem Ausbleiben ihrer Antwort eine andere Bedeutung beigemessen?
Lea verharrte eine Weile und griff dann nach den beigefügten Zeichnungen. Sie sah die Hütte vor sich, einen Hühnerstall und Weiden. Dahinter konnte Lea Stallungen ausmachen. Auch den Maultierwagen hatte Rebekka skizziert. Der Treiber sah knorrig und alt aus, doch ein freundliches Lachen lag auf seinem Gesicht.
Zögernd nur griff Lea nach der letzten Zeichnung. Ein Mann schaute ihr entgegen. Er ähnelte in gewisser Weise Arne. Das lockige Haar trug er länger. Die Augen waren zusammengekniffen und blickten den Betrachter argwöhnisch an. Diese Augen waren es auch, die den Unterschied zwischen den Männern deutlich machten. Sein stechender Blick schien Lea zu bannen. Es lag eine Härte darin, die aus dem zu rühren schien, was dieser Mann erlebt hatte.
Das sind gefährliche Augen, dachte Lea. Wie hypnotisiert betrachtete sie die Zeichnung wieder und wieder, sah die Bartstoppeln auf dem Gesicht des Fremden und den missbilligend verzogenen Mund.
Diese Missbilligung gilt sicherlich Rebekka, begriff Lea und bedauerte die Schwester.
Zögernd nur griff Lea nach den nächsten Briefen, die in großen zeitlichen Abständen gekommen waren. Die Jahreszeiten wechselten, Rebekka hatte viel Arbeit auf der Farm. Sie kümmerte sich vor allen Dingen um den Haushalt. Mit jedem Brief sprach mehr und mehr eine gewisse Unzufriedenheit aus den Zeilen. Sie liebte die Arbeit auf der Farm nicht und beschwerte sich über die Abgeschiedenheit, in der sie lebten. Erst im Frühjahr des folgenden Jahres wurde der Ton der Briefe wieder heiterer. Die beiden Brüder hatten ein neues
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