Tochter der Insel - Historischer Roman
geschäftig durch die Räume zu wirbeln, wobei sie unablässig vor sich hin plapperte. Sie sprach von der Beerdigung, den Worten des Pastors und den Trauergästen. Ausführlich ging sie auf die auffällige Erscheinung der Fremden ein, Carlotta. Als beide gegessen hatten und die Abendsonne schon durch das Fenster schien, verabschiedete sich die Haushälterin.
»Bis morgen, Mädchen. Leg dich ins Bett. Der Tag war hart. Lass es dir nicht zu schwer werden.« Ihre von der Arbeit rauen Hände strichen über Leas Wangen.
Lea schloss die Tür und lehnte sich gegen das Holz. Doch dann gab sie sich einen Ruck und zwang sich die Treppe hinauf. Sie hatte es bis jetzt aufgeschoben, das Kästchen, das Gärber ihr gebracht hatte, zu öffnen.
Die Schatulle stand im Zimmer der Großmutter auf dem Sekretär. Das große Dachzimmer schien noch den Geruch zu verströmen, der der Verstorbenen stets angehaftet hatte. Ein herber Blumenduft, der an Verwesung erinnerte. Direkt neben dem Fenster stand der Sekretär, an dem Großmutter so oft gesessen hatte. Lea ließ sich auf den Stuhl davor nieder, stützte die Ellenbogen auf die Schreibplatte und zog das Kästchen zu sich heran.
Unentschlossen spielte sie mit den Beschlägen. Sie wollte die Schatulle öffnen, konnte es aber nicht. Es war, als beobachtete Großmutter sie. Sie würde hier nicht bleiben können! Lea umfasste die Schatulle und floh aus dem Zimmer.
Auf der Treppe atmete sie tief durch. Was für ein Unsinn, Großmutters Geist im Zimmer zu vermuten. Lea raffte den Rock und stieg die Stufen hinab. Nach der Kälte im oberen Stockwerk empfand sie die Wärme des Wohnzimmers als sehr angenehm. Das Kaminfeuer schien sich in den hellen Wänden widerzuspiegeln. Es machte einen heimeligen Ort aus der Stube.
Es war allein Großmutters Kälte, die dieses Zimmer stets bedrückend auf mich wirken ließ, erkannte Lea staunend und schaute sich um, als sähe sie alles zum ersten Mal. Die dicken Deckenbalken, die Stickarbeiten in den runden Rahmen an der Wand, der mächtige geschnitzte Schrank, der das kostbare Essgeschirr barg. Zwischen den beiden bleiverglasten Fenstern tickte die Uhr, deren Gehäuse mit Holzschnitzereien verziert war.
Zögernd stelle Lea das Kästchen auf den ovalen Eichentisch und zog sich einen der gepolsterten Stühle heran. Bei der Betrachtung der kleinen Holztruhe hatte sie sofort an die Kette mit dem Schlüssel denken müssen. Lea hatte sie in Großmutters Mantel, in einer kleinen unscheinbaren Seitentasche, entdeckt.
Jetzt zog sie mit einem Seufzer die Kette hervor. Für eine Weile verharrte sie mit dem Schmuckstück in ihrer Hand. Doch dann überwand Lea sich, griff nach dem Schlüssel und schob ihn vorsichtig ins Schloss. Er ließ sich ganz leicht drehen. Lea drückte das geöffnete Scharnier beiseite und hob den gerundeten Deckel des Kästchens. Ein leichter Blütenduft entströmte ihm, und sofort wusste Lea, woher dieser Geruch rührte. In dem Kästchen lag ein Stoffbeutel, in dem sich allem Anschein nach Papiere befanden, denen der Duft entströmte. Lea hob den Beutel heraus und legte ihn zur Seite.
Dann griff sie nach dem schmalen, mit rotem Samt umhüllten Etui, das tiefer in der Schatulle verborgen lag. Vorsichtig öffnete Lea es und stieß einen verzückten Laut aus. Auf heller Seide lag ein schweres Goldmedaillon. Das ovale Kleinod war reich mit Blüten und Ranken verziert. Als Lea einen kleinen, kaum sichtbaren Hebel an der Seite berührte, sprang der Deckel auf. In einem Rahmen aus Glas kam das Porträt einer jungen Frau zum Vorschein. Auf dem winzigen Bildnis hatte der Maler den weichen Ausdruck ihres Gesichts mit den blauen Augen und dem hellen Haar eingefangen. Lea stockte der Atem. Dies musste den Beschreibungen nach ihre Mutter sein. Sie lehnte sich zurück und betrachtete lange das Gesicht, das ihr fremd, aber doch auch seltsam vertraut war.
Draußen war es dunkel geworden und Lea zündete die Lampe an. Sie legte ein Scheit nach, schloss die Vorhänge und ging zögernd zum Tisch zurück.
Es widerstrebte ihr, sich den Papieren zuzuwenden. Lea schüttelte über sich selbst den Kopf und zog mit einer energischen Bewegung den Stoffbeutel zu sich heran. Behutsam brachte sie den Inhalt ans Licht. Vor ihr lagen etwa ein Dutzend Umschläge. Das Briefpapier war einfach, die Schrift klein und kühn, spitz im Ansatz und die Buchstaben eng beieinander. Lea betrachtete die geschriebenen Worte, ohne zu erkennen, dass es ihr Name war, der dort geschrieben
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