Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
straffte die Schultern, als würde er in einen Kampf gehen, und pochte gegen die Tür.
»Ja?« Ihre Stimme. Wie sehr liebte er sie. Wie sehr hatte er sie vermisst.
Er trat ein. Leise fiel die schwere, ziselierte Metalltür hinter ihm ins Schloss. Sie waren allein.
Gabriella stand am Fenster. Sie hatte die Steingläser zurückgeschoben, um über das Land blicken zu können. Seine Schwester hatte ihr eines ihrer wenigen Kleider gegeben, die sie über die Jahrhunderte hinweg gerettet hatten: ein langes, fließendes Gewand, gegen das Dämmerlicht halb durchsichtig. Der laue Morgenwind schmiegte es gegen ihren Leib, ihre Schenkel. Er schluckte. Ein wahr gewordener Wunsch stand vor ihm. Sie zu berühren. Mit seinen Händen zu fühlen, mit seinem Körper. Die Vorstellung, diesen weichen Leib mit allen Sinnen zu erfassen, ließ sein Herz vor Erregung wild pochen. Hitze wallte in ihm auf, erfasste seine Lenden, weckte ein Verlangen, das seinen Mund austrocknete und in seinen Ohren rauschte.
Sie kam auf ihn zu. Sie konnte, wenn er sich nicht sehr beherrschte, alle seine Gefühle von seiner Miene ablesen. Sein Ausdruck wurde so abweisend, dass sie stehen blieb.
»Ich …« Sie knetete ihre Finger, was sie oft tat, wenn sie unsicher oder aufgeregt war. »Ich habe dich gesucht.«
»Tatsächlich.« Er würde ihr mit keinem Schritt, keinem Wort entgegenkommen. Es war zu gefährlich, das Verlangen nach ihr so heftig, dass seine Hände zitterten. Aber es hatte keinen Sinn. Sie musste zurück, und er tat besser daran, sie nicht zu berühren, um zu den bisherigen Erinnerungen nicht auch noch die an ihren Körper ertragen zu müssen.
Ihre Brauen zogen sich ein wenig zusammen, als sie ihn musterte, die Augen zusammengekniffen, als würde sie hinter seine Stirn blicken wollen. Strabo hatte das fast dreißig Menschenjahre erfolglos versucht – da hatte sie auch keine Chance.
»Der Wächter hinter dem Tor hat mich auf diesen Friedhof geschickt«, sprach sie weiter, ihre Stimme vorwurfsvoll. »Ich dachte schon, du wärst gestorben und ich würde dich dort finden.«
Darran wusste, was ein Friedhof war, er hatte mit ihr einmal das Grab ihrer Mutter besucht. »Das ist kein Friedhof. Es sind auch keine Grabmäler. Dies sind Ahnentempel, Kraftstätten verschiedener Familien. Unsere Eltern bringen uns schon von klein auf dorthin, damit wir die Magie unserer Ahnen in uns aufnehmen.«
Sie war jetzt so nahe, dass er ihre Wärme und den Duft der Kräuter auf ihrer Haut wahrnehmen konnte. Er wich aus, ging um sie herum, bis das erwachende Licht des Tages auf ihr Gesicht fiel. Jetzt konnte er sie besser betrachten. Ein Fehler, stellte er schnell fest, denn die Sehnsucht und die Zärtlichkeit in ihren Augen straften ihre ruhige Stimme Lügen. Sein Blick fiel auf die Narbe an ihrer Wange. Levana hatte ihre Fähigkeiten in der Heilkunst in den vergangenen Jahren noch vertieft. Darran sah lediglich eine hellrote Linie über die Wange verlaufen, und auch diese würde nach einigen Wochen verblassen. Er allerdings würde sich für den Rest seines Lebens an die klaffende Wunde erinnern, das blutige, geschwollene Gesicht. Am liebsten hätte er die Stelle geküsst, bis Gabriella vergaß, was Malina ihr angetan hatte. Dafür, dass es kein zweites Mal passierte, würde er sorgen. Zuerst musste er sie zurück nach Hause schicken und dann Malina aufspüren und töten.
Er wies zum Fenster. Anstatt wie in Gabriellas Welt die Farben von Neuem erstrahlen zu lassen, beschienen die erwachenden Sonnenstrahlen hier nur totes graues Land. Und selbst die Sonne hatte nicht dieselbe Kraft, ihr Licht fiel fahl auf Amisaya herab. »Wenn du dort hinübersiehst, erblickst du die Hohen Berge von Amisaya. Man sagt, dass unser Volk hier seinen Ursprung fand. Und dort …« Er rettete sich in weitere Ausführungen, nur um sie nicht ansehen zu müssen, aber zu seiner Überraschung lachte sie plötzlich auf.
»Was ist?«, fragte er verunsichert.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und trat auf ihn zu. »Ich fasse es nicht! Ich fasse es nicht, dass ich einen Jäger erpresse, durch dieses Tor gehe und mich fast von der Barriere brutzeln lasse, anschließend von Verrückten gefangen genommen werde, die mein Gesicht mit dem Schwert aufschlitzen und meinen süßen, armen kleinen Teddy in seine Bestandteile zerlegen …« Ihr ausgestreckter Finger wies anklagend auf das Stofftier, das in einer Ecke auf ihrem Lager saß und mit seinem unveränderlichen, leeren Grinsen
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