Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
traf ihn wie ein Schwerthieb und schlug sein ganzes Wesen entzwei, ließ ihn wie im Schmerz zittern. Aber nur für einen kurzen Moment. Er musste sich beherrschen. Schon als Krieger waren sie darauf getrimmt worden, ihre Gefühle im Griff zu haben. Kampfmaschinen in der Schlacht. Höfisch-höflich im Umgang mit anderen. Nach außen hin höflich, innerlich kalt. Innerlich kalt hatten sie damals auch die Menschen abgeschlachtet, die sich ihnen in den Weg stellten, um ihr Hab und Gut zu verteidigen. Bis die Alten sie zurück nach Amisaya gebracht hatten.
Und nun war er geschickt worden, um mit Gabriella Bramante das einzige Wesen zu töten, das in den letzten hundert Jahren von einem Amisayer gezeugt worden war. Welch eine Ironie.
Strabos Tochter war eine liebenswerte junge Frau. Als Jäger hatte er Gefühle besser erspüren können als jetzt, aber dennoch fühlte er ihre freundliche Ausstrahlung, die fast verlegene Güte, die aus ihrem Gesicht geleuchtet hatte, als sie ihm die Suppe hingestellt, ihm sogar das Geld zurückgegeben hatte, obwohl es ohnehin zu wenig gewesen war. Und nun nahm sie ihn, einen völlig Fremden, sogar zu sich in die Wohnung, damit er sich aufwärmen konnte.
An der Wand gegenüber hing ein gerahmtes Bild mit Gekritzel darauf. Er betrachtete es eingehend, um ihr sein Gesicht nicht zeigen zu müssen. Er hatte früher selbst gemalt, in seiner Jugend, ehe er Krieger wurde. Er hatte Gemälde geschaffen, die die anderen verzauberten. Lichte Täler, glasklare Bäche und Seen. Blüten und Pflanzen in Farbspielen, wie man sie auf der Erde nicht fand – bis der Krieg seine Heimat und die lebende Pracht zerstört hatte. Er war später, als er seine Gefühle wiederentdeckt hatte, und Teile seiner Erinnerung, oft durch jene Ausstellungshallen gewandelt, die von Menschen Museen genannt wurden, und hatte sein eigenes, früheres Leben in manchen Gemälden wiedergefunden, Gemälde, die sein Herz berührt hatten. Das hier aufzuhängen war dagegen geradezu schamlos. Er merkte, wie es um seine Lippen zuckte. Etwas wie Rührung stieg in ihm hoch, ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr verspürt hatte.
»Und? Was halten Sie davon?« Ein leicht aggressiver Unterton schwang in der sonst freundlichen Stimme mit. Er wandte sich langsam um und betrachtete sie. Dort stand Strabos Tochter, von Malina voller Hass Buhlentochter genannt. Nur zwei Schritte von ihm entfernt. Sein Blick glitt von ihren Händen, die unruhig den Teebecher hin und her drehten, aufwärts. Sie war nicht klein, aber schlank gebaut. Und sie hatte einen so zarten Hals. Ein Griff, ein Knacken und er hätte seine Aufgabe erfüllt.
»Meine Kollegin hat es für eine Kinderzeichnung gehalten«, sagte sie.
Der Tee in seinen Händen schien zu Eis zu erstarren. »Ihre Kollegin Rita?« Er sprach den Namen sehr langsam aus.
»Mhm.«
Er ging zum Tisch hinüber und stellte die Teetasse bedächtig ab. Nur zwei schnelle Schritte. Sie war trotz des Jägers schutzlos. In Todesgefahr. So gut wie tot. Der Jäger könnte ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen. Ihn nicht und auch jene, die nach ihm kommen würden, sollte er versagen. Er richtete sich auf.
»Danke für den Tee. Ich werde jetzt gehen.«
Ehe sie etwas antworten konnte, war er bei der Tür, schlüpfte in die nassen Schuhe und griff nach der Jacke. »Ihre Kollegin kommt morgen wieder, habe ich gehört.«
»Ja, das stimmt.«
Er nickte. »Ich … habe woanders Arbeit gefunden. Vielen Dank noch einmal für alles.«
»Warten Sie!«
Sie hielt ihm eine Decke hin, dann einen Regenmantel. Gleichzeitig stopfte sie etwas in seine Jackentasche. Geldscheine.
Er packte ihre Hand, bevor sie sie zurückziehen konnte. Sie zerrte, wehrte sich, er sah die Angst in ihren Augen, aber sie hatte keine Chance gegen ihn. Und ehe ihm selbst so richtig klar wurde, was er da tat, beugte er sich über ihre Hand und küsste sie. Dann riss er die Tür auf und war fort.
Er hatte schon ihrer Großmutter die Hand geküsst. Voller Ehrerbietung, vor langer Zeit, vor dem Krieg. Welch eine Ironie – nein, Gehässigkeit des Schicksals.
Als er die Treppe hinunterlief, trug sein Gesicht einen kalten, zornigen Ausdruck.
Zehntes Kapitel
Sie hatten sich in einer der Steinhütten am Rande des Felsenmeers versammelt. »Die Fortschritte sind nicht zufriedenstellend. Die Zeit verrinnt, ohne dass etwas geschieht.«
»Wir haben keine Nachricht von Markus.« Der Sprecher der Gruppe war klein und besser gekleidet als die anderen, mit kurz
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