Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
verlegene Grimasse. »Ja, ich weiß, es klingt mehr als blöd. Aber ich sehe manchmal diese Schattenmänner. Das konnte ich nicht immer, das hat erst damals, mit dem Unfall begonnen.«
»Ein … Unfall?«, brachte Gabriella hervor. Sie erinnerte sich, dass sie Rita damals nur deshalb angesprochen hatte, weil sie gedacht hatte, sie würde einen dieser Grauen beobachten. Hatte sie sich also doch nicht getäuscht?
Rita fuhr mit beiden Händen unter ihr Haar und hob es hoch, um Gabriella eine weißliche Narbe zu zeigen, die sich, vom Nacken beginnend, über ihren Hinterkopf hinaufzog. »Da bin ich gestürzt, als ich so etwa dreiundzwanzig war. Ein Mann hat mich verfolgt und niedergestoßen, ein Verrückter.« Sie musste sich bei der Erinnerung schütteln, und ihr Gesicht verzerrte sich sekundenlang. »Seine Hände waren wie Krallen, Schaum stand ihm vor dem Mund, und ich dachte schon, er würde wie ein wildes Tier über mich herfallen und mich zerreißen. Und da tauchte jemand anderer auf. Einfach so! Aus der Luft!« Rita fuchtelte herum, um ihre Worte zu unterstreichen. Sie sprach jetzt abgehackt, hastig. »Er hat ihn gepackt und meinen Arm dabei erwischt. Und in dem Moment habe ich ihn überhaupt erst gesehen!« Sie holte tief Luft und suchte nach Worten. »Es … es war wie ein Schock, wie ein elektrischer Schlag.«
Einen ähnlichen Schock erlebte Gabriella in eben diesem Moment. »Der Mann ist aus dem Nichts aufgetaucht?«
»Und danach sind sie beide verschwunden.« Sie musterte Gabriella argwöhnisch. »Ich habe aber keinen Dachschaden von dem Sturz, falls du das vielleicht glaubst.«
Gabriella schüttelte benommen den Kopf. Sie versuchte zu verstehen, was passiert war. Jemand hatte Rita überfallen, dann war ein Grauer, ein Jäger, aufgetaucht und hatte ihn in seine Welt verschleppt. Für Sekunden musste Rita dabei ebenfalls mit dieser magischen Zwischenwelt, über die Gabriella sich noch keine rechte Vorstellung machen konnte, in Kontakt gekommen, vielleicht sogar ein Stück in sie hineingezogen worden sein. Sie hatte unwillkürlich die Luft angehalten und atmete jetzt hörbar aus.
»Erzähl bitte weiter.«
»Ich habe nie jemandem gesagt, dass ich sie sehe, weil ich Angst hatte, die Leute würden behaupten, ich wäre verrückt. Und ich war doch so froh, als ich wieder gesund war und arbeiten gehen konnte.«
»Und später hast du noch andere solcher Männer gesehen?«
»Ja, aber nur sehr selten. Sie waren manchmal da, dann sind sie wieder verschwunden, ohne irgendjemand oder gar mich zu beachten. Bis auf … bis auf diesen einen. Er kam wieder. Er hat mich besucht, im Krankenhaus, ist aber nur ganz still neben meinem Bett gestanden und hat mich angesehen. Zuerst habe ich gedacht, er sei so was wie mein Schutzengel. Weil er ja den Verrückten von mir heruntergezerrt hat. Aber später habe ich geglaubt, er nimmt mich vielleicht auch mit. Also habe ich getan, als gäbe es ihn gar nicht. Aber er ist immer wiedergekommen und hat mich angesehen, einfach nur angesehen, und gar nicht drohend, sondern eher besorgt. Und da hab ich ihn eines Tages angeredet.« Sie lächelte in der Erinnerung, und Gabriella war verblüfft über die Zärtlichkeit in diesem Lächeln. »Richtig erschrocken ist er. Und dann hat er mir gesagt, er hätte nur wissen wollen, wie es mir geht.«
Als sie sah, wie Gabriella erschauderte, legte sie den Arm um ihre Freundin. »Ich wollte dir keine Angst machen. Und ich bin nicht verrückt. Bestimmt nicht!« Ihre Stimme klang drängend. »Es ist nur, weil ich diesen Mann ständig in deiner Nähe sehe …«
»Sag mir nur eines«, bat Gabriella, »als wir uns damals getroffen haben, bei der U-Bahn-Station, und ich dich angesprochen habe – hast du da einen von ihnen gesehen?«
Rita blinzelte überrascht. »Aber ja! Und ich war so traurig damals. Du weißt ja, die Lippe, der Streit mit Georg, und dann taucht da dieser Mann auf. Ich hätte den Rest meines Lebens dafür gegeben, wenn er es gewesen wäre.«
Gabriella umarmte Rita. Sie war nicht allein. Wenn sie verrückt war und Phantome sah, dann war sie zumindest nicht allein. Rita würde sich wundern. Sie lachte ein wenig, als sie ihre Freundin von sich schob, und setzte zu sprechen an. Ehe sie jedoch die richtigen Worte finden konnte, um Rita von Darran zu erzählen, tauchte Antonio auf.
»Was ist, Mädels? Avanti, bella Gabriella!«
Gabriella wandte sich grinsend ihren Aufgaben zu, Rita strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah
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