Tochter der Träume / Roman
stimmt’s? Wenn man seine Familie liebt und vermisst, einem aber davor graut, sie zu sehen. Im Grunde graute mir nicht vor meiner Familie, sondern vielmehr vor den Erwartungen, die sie an mich stellte.
»Okay. Sieh zu, was du machen kannst. Bis bald. Hab dich lieb.«
Meine Kehle war jetzt vollends zugeschnürt. Ich stand kurz davor, nach Luft zu schnappen. »Ich hab dich auch lieb.«
Ich legte auf. Nur exakt zwei Sekunden später – ich hatte kaum Zeit gehabt, das Gespräch mit meiner Schwester auch nur ansatzweise sacken zu lassen – klingelte es wieder.
»Hallo?«
»Hat Ivy dich schon angerufen?« Es war mein Bruder Mark. Ich musste lachen, was den Knoten in meiner Kehle lockerte.
»Woher weißt du das?«
»Ich habe vorhin mit ihr gesprochen und wollte ihr eigentlich zuvorkommen. Aber nachdem ich es dreimal bei dir probiert habe und dauerbesetzt war, wusste ich, dass sie dich erwischt hat.«
Mir war es viel länger vorgekommen.
»Du wolltest mir wohl den Rücken freihalten, was?«
»Ich dachte, wenn ich dich zuerst anrufe und sie nicht durchkommt, gibt sie irgendwann auf.« Es war kurz still in der Leitung. »Hat sie dir sehr zugesetzt?« Seine Stimme klang jetzt anders, war weniger beschwingt.
Ich zuckte mit den Schultern, obwohl er das nicht sehen konnte. »Geht so.«
»Alles klar?«
»Ja.«
»Willst du darüber reden?«
Ich zwirbelte die Telefonschnur zwischen den Fingern. »Eigentlich nicht.«
Seine Erleichterung war fast hörbar. Mein Bruder, so herzensgut er war, konnte nicht gut mit Gefühlen umgehen. »Gut. Dann will ich dich nicht weiter stören. Nacht, Tink!«
Ich lächelte. »Nacht, Idgit.«
Als ich auflegte, schwor ich mir, den Anrufbeantworter drangehen zu lassen, sollte es noch einmal klingeln.
Ich ließ mir ein Bad ein und stöberte durch meine Sammlung von Badezusätzen, während sich die Wanne langsam füllte. Ich brauchte etwas zum Entspannen – ah, Zimtflocken-Schaumbad. Herrlich. Wenn ich die Dinger schon nicht essen durfte, dann könnte ich mich wenigstens in Wasser aalen, das danach duftete.
Ich steckte mir die Haare hoch, legte die aktuelle Bon-Jovi- CD ein, schnappte mir den neuesten Roman von Lisa Kleypas und warf meinen Bademantel über den Handtuchhalter. Dann tauchte ich in das heiße, süß duftende Nass ein und las, bis Jon Bon Jovi aufhörte zu singen. Mittlerweile duftete ich köstlich, hatte Muskeln, die so schlaff waren wie Paris Hiltons Augenlider, und den Kopf voller Fantasien, in denen ich und ein finsterer Held die Hauptrolle spielten. Sollte heute Nacht jemand wagen, David Boreanaz zu erstechen, würde ich ernsthaft ausrasten!
Ich kletterte ins Bett und war eingeschlafen, kaum dass mein Kopf das Kissen berührt hatte. Ich entschlummerte in meine geheime Welt und ließ den Träumen freien Lauf:
Ich war mit Clive Owen auf dem Weg in die Oper, aber bevor es interessant wurde, landete ich irgendwie in meiner alten Highschool, wo mir klarwurde, dass ich vergessen hatte, für eine Prüfung zu lernen. Clive war auch da, doch er war den weiblichen Reizen von Amy Dufresne verfallen – ein ordinäres Knochengestell, die in Geschichte vor mir saß. Ich hatte sie nie leiden können.
Dann waren Amy und Clive verschwunden, und ich war in einem Schlafzimmer – einem alten. Ich kam mir wie in der Inszenierung eines Romans von Jane Austen vor. Das Schlafzimmer war riesig, mit einer Tapete an den Wänden, die mit Hunderten von farbenprächtigen Vögeln handbemalt war. Ich berührte sie und spürte eine leicht geriffelte Oberfläche unter meinen Fingern.
Mein Haar fiel mir offen auf die Schultern, und ich trug ein langes Baumwollnachthemd, das makellos sauber und völlig faltenlos war. Darunter war ich nackt.
Die Tür öffnete sich, und im schwachen Lichtschein – warum war mir das gedämpfte Licht bisher gar nicht aufgefallen? – sah ich einen Mann eintreten. Mit schweren Stiefelschritten kam er direkt auf mich zu und trat aus dem Dunkel ins Licht.
Er war wunderschön. Hautenge, schwarze Hosen, Lederstiefel, offenes, weißes Hemd, braungebrannt, athletische Statur. Seine hellen Augen kamen mir irgendwie bekannt vor, ich wusste aber nicht, woher. Er sah aus wie dem Buchdeckel eines Liebesromans entsprungen, nur besser. Er war die fleischgewordene Verkörperung all dessen, was ich an einem Mann attraktiv fand, und mir wurden die Knie weich.
Er sprach nicht, sondern nahm mich einfach in die Arme – in seine überaus muskulösen und starken Arme – und
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