Tochter der Träume / Roman
nicht.«
Seltsame Augen. Gut. Das konnte alles heißen – nicht unbedingt blassblau mit schwarzen Rändern. »Träume von Fremden deuten oft auf die Angst vor dem Unbekannten hin. Und was die Aggressivität betrifft … Gibt es derzeit irgendeinen Aspekt in Ihrem Leben, der Ihnen ein Stressgefühl bereitet?«
Er schüttelte den Kopf. »In ein paar Tagen habe ich eine Ausstellung. Nichts Großes.«
Ich dachte darüber nach. Der Stress einer bevorstehenden Ausstellung könnte sich durchaus in Noahs Träumen widerspiegeln, doch für einen Gewalttraum von diesem Kaliber schien mir das als einziger Auslöser kaum denkbar.
»Doc.« Er wirkte blass, als er mich über den Tisch hinweg betrachtete. »Ich habe versucht, den Traum zu wandeln, doch er hat ihn mir genommen. Es war nicht mehr mein Traum. Es war seiner.«
Die Worte – und der Blick in Noahs Gesicht – jagten mir Angstschauder über den Rücken. Noah hatte luzide geträumt – aber er war dabei machtlos gewesen. Das musste ihn in Angst und Schrecken versetzt haben. Traumwesen können einen Traum lenken, aber sie reißen ihn nicht an sich. Das war ihnen nicht gestattet.
Der Gedanke, dass einer von ihnen genau das getan hatte, machte mich wütend.
Sehr
wütend.
»Sie sagten, der Mann habe mit Ihnen gesprochen?« Die Therapeutin in mir war unaufhaltsam dabei, gegen das Traumwesen in mir zu verlieren. »Was hat er gesagt?«
»Er sagte, er würde kommen, und weder ich noch die Traumwesen wären in der Lage, ihn aufzuhalten.« Seine Lippen verzogen sich, als wollte er sich ein Lächeln abringen, aber er schaffte es nicht ganz. »Das ist unheimlich, nicht wahr?«
Könnte Blut zu Eis gefrieren, hätte ich in diesem Moment die
Titanic
versenken können. Nein. Das konnte nicht sein. Unmöglich.
»Ja«, stimmte ich ihm heiser zu. »Unheimlich. Irgendeine Ahnung, was es bedeutet?«
Noah schüttelte den Kopf. Doch als er mich ansah, hatten seine dunklen Augen einen seltsamen Schimmer. »Keine Spur. Ich dachte, Sie könnten diesen Traum entschlüsseln.«
»Ich? Wieso?«
»Weil Sie mehr über Träume wissen als sonst wer, den ich kenne.«
Das stimmte. Mehr, als er sich je vorstellen konnte. Trotzdem erwiderte ich das Kompliment mit einem Lächeln und schaltete dann wieder auf die Ärztin um. »Wie fühlten Sie sich in diesem Traum?«
Er starrte mich eine Sekunde lang an, als wüsste er, dass in meinem Kopf mehr vor sich ging, als ich sagte. »Machtlos«, sagte er so leise, dass ich es kaum hörte.
»Hatten Sie Angst?«
Er biss die Kiefer so fest zusammen, dass ein Muskel hervortrat. Wie schafften Männer das bloß? »Ja.«
Er gab es nicht gern zu – aber wer tat das schon? Doch es gab mir zu denken. »Niemand lässt sich gern zum Opfer machen.« Ich beobachtete seine Reaktion – seine Augen verdüsterten sich kaum merklich. »Vielleicht haben Sie Angst, das Opfer zu sein, oder Sie sind es in der Vergangenheit gewesen.«
Ich hatte Noah vorher noch nie aufgebracht oder wütend erlebt, wage aber zu behaupten, dass er dabei ähnlich aussehen würde wie in diesem Augenblick, nur viel schlimmer. Seine Nasenflügel blähten sich, als er scharf einatmete, seine Augen funkelten, und ihm stieg das Blut in die Wangen. »Mag sein.«
Mist, jetzt würde er kein Wort mehr von sich geben. »Noah« – ich versuchte, meiner Stimme einen sanften Ton zu verleihen –, »sind Sie wirklich überzeugt davon, dass etwas in Ihrem Traum versucht hat, Sie körperlich zu verletzen?«
Er beugte sich näher heran, wobei sich der Stoff seines Hemds straff über Bizeps und Schultern spannte – käme ich ihm nur wenige Zentimeter entgegen, würden wir uns küssen. »Glauben Sie, dass es möglich ist?«
Ich hielt seinem Blick stand und sagte nur ein Wort, das nicht zu sagen ich mir eigentlich geschworen hatte. »Ja.«
Noah erstarrte und betrachtete mich teils erleichtert, teils ungläubig. »Das dachte ich mir.«
Mir blieb eine Antwort erspart, da in diesem Augenblick unsere Hauptspeise serviert wurde. Ich war nicht besonders hungrig, da mein Magen noch immer empfindlich war, doch ich würde das gute Essen nicht stehenlassen.
Irgendwie gelang es mir, etwas zu sagen, während ich Basmatireis auf unsere Teller füllte. »Ja. Es könnte auch sein, dass Sie Angst vor etwas oder jemandem haben, den Sie lieber meiden möchten, was aber nicht geht. Oder Sie hegen möglicherweise einen Groll, den Sie in sich hineinfressen. Vielleicht will Ihnen Ihr Unterbewusstsein sogar sagen,
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