Tochter der Träume / Roman
Weise nähern.
Noah glaubte, was er mir eben gesagt hatte, meine Meinung war da zweitrangig. Ich würde nicht ernsthaft abwägen, ob es in seinen Träumen tatsächlich etwas gab, das ihn umbringen wollte, sondern mit der Situation umgehen, wie ich das als Therapeutin tun sollte. Denn genau das erwartete er von mir. Ich machte mir diese Gedanken lediglich wegen meiner eigenen Erlebnisse, dabei hätte ich wissen müssen, dass persönliche Dinge in einer Sitzung nichts zu suchen hatten.
»Wie kommen Sie darauf, dass Ihre Träume Ihnen etwas antun wollen?«
»Wie ich darauf komme?« Fassungslosigkeit und Zorn glitten über seine Züge. Ihm gefiel nicht, wie ich die Sache anging. Mir auch nicht. »Mein Traum hat versucht, mich zu töten.«
Ich bohrte weiter. Es musste eine rationale Erklärung geben.
Bitte, lieber Gott, lass es eine geben.
»Haben Sie in letzter Zeit etwas Aufwühlendes erlebt? Gab es vielleicht eine große Veränderung in Ihrem Leben? Es könnte sein, dass Ihr Unterbewusstsein darauf reagiert, indem es Ihrem Bewusstsein vermittelt, dass Ihnen körperliche Gefahren drohen.«
Er maß mich mit kritischem Blick. »Jetzt kommen Sie mir nicht auf die Psychotour, Doc. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil mir keine andere Person einfällt, an die ich mich sonst wenden könnte, und nicht, weil ich nicht mit der Realität klarkomme.«
Seine Worte trafen mich. »Tut mir leid, Noah. Ich war eben noch nie mit einer solchen Art von … Problem konfrontiert.«
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, die die Farbe eines saftigen Pfirsichs hatten. »Ihre nächste Patientin wartet.« Ich hatte mir schon einige Male vorgestellt, wie es wäre, diese Lippen zu küssen, hatte Hunderte Male über Worte gelacht, die von ihnen kamen, doch jetzt machte mich allein ihr Anblick traurig – und ich fühlte mich schuldbewusster, als ich mir eingestehen wollte.
Noahs Geisteszustand war zweifellos stabil, und ich fragte mich auch nicht, ob er mehr Hilfe brauchte, als ich ihm geben konnte. Doch selbst wenn es in seinen Träumen wirklich etwas gab, das ihn töten wollte, so war ich nicht die Richtige, ihm zu helfen.
»Er will aber, dass du es bist«
, wisperte die leise Stimme in meinem Kopf.
»Ja, meine Patientin wartet, aber …« Er schnitt mir das Wort ab, indem er aufstand.
»Schon gut, Doc. Ich lasse mir von Bonnie einen Termin geben.« Er steckte die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Lederjacke und ging zur Tür.
Nachdem ich eben alles vermasselt hatte, wollte er trotzdem wiederkommen?
»Noah.« Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er ging und dachte, ich würde ihm nicht glauben.
Er drehte sich um, noch immer den leeren, nun auch enttäuscht wirkenden Ausdruck im Gesicht.
Er sagte nichts.
Ich holte tief Luft und schob meinen Stuhl zurück. »Ich gehe heute Abend um sechs Uhr essen. Wollen Sie mitkommen?« Es war meine Pflicht, ihm zu helfen – und ich wollte ihm helfen.
Ein winziges Lächeln huschte über sein Gesicht – und ganz kurz schien es, als runzelte er die Stirn. »Ist das eine Einladung zu einem Date?«
Ich lächelte unsicher, was sehr anziehend wirkte, da war ich sicher. Nun überschritt ich sämtliche Grenzen, die ich als Ärztin nicht überschreiten sollte. »Wenn Sie zahlen.«
Er nickte. »Klar. Ist McDonald’s okay?«
Ich musste ziemlich entsetzt ausgesehen haben, denn nun wurde aus dem leichten Lächeln ein breites Grinsen. Er hatte tolle Zähne, bestimmt hatte er als Kind eine Zahnspange tragen müssen. Wenn er lächelte, sah er einfach umwerfend aus. Ich sonnte mich in seinem Lächeln, auch als ich merkte, dass er mich aufzog.
»Keine Sorge, Doc. Selbst ich habe ein bisschen mehr Stil. Ich hole Sie um sechs Uhr ab.«
Er zog die Tür hinter sich zu – wofür ich sehr dankbar war, denn ich konnte bloß noch kraftlos auf meinen Stuhl sinken. Was hatte ich getan? Mich mit einem Patienten zum Essen verabredet? Auch wenn es sich so anhörte, als wäre sein Leben gerade völlig verkorkst, hatte ich trotzdem einen Mann um eine Verabredung gebeten. Und das hatte ich seit … nun, eigentlich noch nie getan.
Ich saß eine Weile da, während sich der Schock langsam legte. Plötzlich zog ein breites Grinsen über mein Gesicht. Noah Clarke und ich würden essen gehen.
Ich konnte es kaum erwarten, Bonnie davon zu erzählen.
Um zehn vor sechs verabschiedete ich meinen Patienten, zog die oberste Schublade meines Schreibtischs auf und nahm eine Bürste und einen kleinen
Weitere Kostenlose Bücher