Tochter Der Traumdiebe
Klosterheim war nicht dabei, doch der düster starrende Fahrer war derselbe.
Gaynor hob die Hand zum lächerlichen Hitlergruß, den man anscheinend aus amerikanischen Filmen über das römische Reich entlehnt hatte, und wünschte mir einen guten Nachmittag.
Ich stieg wortlos in den Wagen und lächelte dabei in mich hinein.
Als wir durch die Tore fuhren und das Lager hinter uns ließen, fragte Gaynor mich, warum ich lächelte.
»Ich habe mich einfach darüber amüsiert, wie weit ihr diese Schauspielerei treibt, du und deinesgleichen. Anscheinend ist es euch nicht einmal peinlich.«
Er zuckte die Achseln. »Manche finden es eben leichter, das Absurde nachzuäffen. Immerhin ist doch die ganze Welt ein absurdes Theater geworden, oder?«
»Die amüsanten Aspekte dabei dürften die Insassen des Lagers wohl kaum zu würdigen wissen«, erwiderte ich. Im Gefängnis hatte ich Journalisten, Ärzte, Anwälte, Wissenschaftler und Musiker kennen gelernt, die zumeist auf die eine oder andere Weise misshandelt worden waren. »Alles, was wir sehen, sind degenerierte Rohlinge, die eine ganze Kultur vernichten, nur weil sie ihr Wesen nicht verstehen. Die Heuchelei ist in den Rang von Gesetz und Regierungspolitik erhoben worden. Ein Niedergang in eine Barbarei, die schlimmer ist als das Mittelalter, wobei die überlebten Überzeugungen früherer Zeiten heute auch noch als ›Wahrheit‹ verkauft werden. Man erzählt den Leuten offenkundige Lügen wie die, dass sechshundertvierzigtausend jüdische Bürger irgendwie die Mehrheit der Bevölkerung kontrollierten. Und doch kennt jeder Deutsche mindestens einen ›guten‹ Juden, was bedeutet, dass sechzig Millionen ›gute Juden‹ im Land leben müssen. Und dies wiederum bedeutet, dass die ›bösen‹ Juden gegenüber den ›guten‹ weit in der Unterzahl sind. Das ist ein Problem, für das Goebbels bisher noch keine Lösung gefunden hat.«
»Oh, ich bin sicher, dass er sich beizeiten etwas einfallen lässt.« Gaynor hatte die Mütze abgenommen und knöpfte sich die Uniformjacke auf. »Die besten Lügen sind diejenigen, die nach vertrauten Wahrheiten klingen. Altbekannte Lügen klingen auch dem geübtesten Ohr häufig wie die Wahrheit. Du weißt schon, eine Geschichte, die den richtigen Klang hat und richtig vorgetragen wird …«
Ich muss zugeben, dass die Frühlingsluft mich erfrischte. Die lange Fahrt nach Bek genoss ich sehr. Beinahe wünschte ich mir, sie solle niemals enden, weil ich Angst vor dem hatte, was ich womöglich daheim vorfinden würde. Nachdem er mich gefragt hatte, wie es mir im Lager gefallen hätte, sagte Gaynor unterwegs nur noch sehr wenig zu mir. Er war bei weitem nicht mehr so von sich eingenommen wie bei unserer letzten Begegnung. Ich fragte mich, ob er seinen Herren Versprechungen gemacht habe, die er nicht hatte einhalten können.
Erst in der Abenddämmerung fuhren wir durch die Tore Beks und hielten auf der Zufahrt vor der Haupttür. Das Haus wirkte ungewöhnlich dunkel. Ich fragte, was mit den Dienern geschehen sei. Sie hätten gekündigt, erklärte man mir, sobald sie erkannten, dass sie für einen Verräter gearbeitet hatten. Einer sei sogar aus Scham gestorben.
Ich fragte nach dem Namen.
»Ich glaube, er hieß Reiter.«
Ich kannte das Gefühl, das ich jetzt hatte. Mein Mut sank. Mein ältester, treuester Helfer. Hatten sie ihn getötet, als sie ihn über mich ausfragten?
»Der Leichenbeschauer hat also zu Protokoll gegeben, dass Reiter vor Scham gestorben sei?«
»Offiziell nannte man es einen Herzanfall.« Gaynor stieg aus und hielt mir die Tür auf. »Ich bin sicher, dass sich zwei tatkräftige Burschen wie wir hier gut einrichten können.«
»Dann willst du hier bleiben?«
»Aber selbstverständlich«, sagte er. »Immerhin bist du meiner Obhut unterstellt.«
Gemeinsam stiegen wir die Treppe hinauf. Die Tür war mit einem primitiven Vorhängeschloss versperrt. Gaynor rief den Fahrer, er möge kommen und öffnen. Dann betraten wir das Haus, das seltsam feucht, vernachlässigt und nach Schlimmerem roch. Gas und Strom waren abgestellt, doch der Fahrer entdeckte einige Kerzen und Öllampen, mit deren Hilfe ich die Trümmer meines Hauses untersuchen konnte.
Man hatte es geplündert.
Die meisten Wertgegenstände waren verschwunden. Bilder waren von den Wänden genommen worden, Vasen, Schmuck und die ganze Bibliothek entwendet. Alles andere war herumgeworfen worden und lag zerbrochen herum, wie Gaynors Gangster es liegen gelassen hatten. Kein
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