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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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dass ich als politischen Häftling galt. Ich hatte keine andere Wahl. Während ich mich anzog, verhöhnten mich brüllende SA-Männer und erinnerten mich mit obszönen Bemerkungen an die berüchtigten Neigungen ihres Anführers Röhm. So ängstlich und hilflos hatte ich mich noch nie gefühlt, aber ich bereute keine Sekunde lang meine Entscheidung. Irgendwie stärkte mich die Grobheit dieser Männer sogar. Je schlechter sie mich behandelten, je mehr ich ausgesondert und misshandelt wurde, desto klarer wurde mir, wie wichtig das Erbstück meiner Familie für die Nazis war. Dass sie trotz ihrer Macht nach immer mehr Macht strebten, zeigte mir, wie unsicher sie im Grunde waren. Ihr Glaube gründete sich auf die Erfahrungen von Entwurzelten, Feiglingen, Verlierern. Es war kein Glaube, der zu einem echten Befehlshaber passte. So nahm ihre Brutalität beinahe mit jedem Tag weiter zu, da ihr Anführer und seine Kreaturen auch den kleinsten Widerstand gegenüber ihren Willensbekundungen als Bedrohung empfanden. Dies bedeutete letzten Endes auch, dass sie sehr verwundbar waren. Ihre Kinder kannten die Verwundbarkeit.
    Mein erstes Verhör war in barschem, drohendem Ton verlaufen, aber bisher hatte ich nicht viel körperliche Gewalt erdulden müssen. Ich glaube, sie wollten mir einen Vorgeschmack auf das Leben im Lager geben, um mich weich zu klopfen. Sie wollten mir zu verstehen geben, dass sich für mich vielleicht doch noch ein Tor in die Freiheit öffnen würde, wenn ich die Lektion begriff. In der Tat, ich lernte viele Lektionen.
    Die Nazis zerstörten die Infrastruktur der Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit, die sie missbraucht hatten, um an die Macht zu kommen. Doch ohne diese Infrastruktur konnten sie ihre Macht nur durch verstärkte Gewaltanwendung halten. Solche Gewalt zerstört sich jedoch letzten Endes immer selbst. Die Paradoxie ist manchmal die beruhigendste Eigenschaft, die das Multiversum überhaupt besitzt. Für jemanden meiner Herkunft und Erfahrung ist es ein angenehmer Gedanke, dass sogar Gott eine Paradoxie ist.
    Als eher privilegierter Häftling im Konzentrationslager Sachsenburg kam ich in eine Gemeinschaftszelle im Hauptgebäude. Das Schloss wurde schon während des Weltkrieges als Lager für Kriegsgefangene benutzt - und jetzt noch ganz ähnlich geführt wie zu jener Zeit. Wir ›Hausgefangene‹ wurden etwas besser behandelt, wir bekamen etwas bessere Kost und durften hin und wieder Briefe schreiben, während die Außenhäftlinge‹ in den Hütten auf die barbarischste Weise herumkommandiert und für die kleinste Übertretung der zahlreichen Regeln fast beiläufig getötet wurden. Über den ›Hausgefangenen‹ schwebte allerdings immer die Drohung, mach draußen‹ verlegt zu werden, wenn man sich nicht ordentlich benahm.
    Setzen Sie einen Deutschen von meiner Art diesem alltäglichen Schrecken und dem Elend aus, bedrohen Sie ihn mit dem Tod und zeigen Sie ihm anständige Menschen, die vor seinen hilflosen Augen ermordet und gefoltert werden, und er wird sich, falls er überhaupt noch fliehen kann, in die Philosophie flüchten. Es gibt Erfahrungen, bei denen Emotionen und Verstand und vielleicht sogar die Seele selbst den Dienst verweigern. Sie können den Schrecken, den Sie um sich sehen, einfach nicht mehr verarbeiten. Sie gehen hindurch wie ein Schlafwandler.
    Doch auch Schlafwandler können noch wahrnehmen und verstehen, sie haben noch schwache Nachklänge ihrer alten Persönlichkeit in sich - ein Anflug von Großzügigkeit, ein Hauch von Mitgefühl. Doch die Wut, die Sie gerade in solchen Zeiten brauchen, um zu überleben, ist am schwierigsten aufrecht zu erhalten. Manche Schlafwandler wirken äußerlich ganz und gar wie Menschen. Sie reden, sie schwelgen in Erinnerungen, sie philosophieren. Sie zeigen weder Wut noch Verzweiflung. Sie sind vollkommene Gefangene.
    Ich glaube, ich hatte Glück, dass ich die Zelle zunächst mit Hans Hellander teilen konnte, einem Journalisten, dessen Arbeiten ich in Berliner Zeitungen gelesen hatte. Als sich dann durch eine bürokratische Panne die ›Innenzellen‹ schneller füllten als der Außenbereich, kam noch Erich Feldmann hinzu, der unter dem Namen ›Henry Grimm‹ geschrieben hatte. Er war als politischer Häftling registriert und hatte nicht das gelbe Dreieck der jüdischen Insassen bekommen. Drei philosophierende Schlafwandler. Mit den zwei Kojen, in die wir uns so gut wie möglich teilten, mit Schweinefraß und gelegentlich einem Päckchen von den

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