Tochter des Glücks - Roman
Menschen der Volkskommune Löwenzahn Nummer acht, die noch nie ein Flugzeug, geschweige denn ein Raumschiff wie den Sputnik gesehen haben.
In dieser Nacht erleuchtet der Vollmond die Felder um uns herum. Die Straße kommt immer näher. Meine Schwiegermutter bringt noch mehr rote Farbe, die hastig aus Erde hergestellt wurde. Zu viel Rot können wir gar nicht verwenden, und es scheint im Mondlicht fast zu leuchten.
Auf die linke Seite des Wandbilds male ich einen Baum, dessen Äste ein Kreuz bilden. In den Windungen der Rinde hängt ein abstrakter Jesus, den Kopf gesenkt, ein grüner Strich deutet die Dornenkrone an. Rechts davon male ich noch einen Baum, sodass das gesamte Wandbild von Ästen, Wurzeln und Blättern eingerahmt wird. Oben auf einem Ast sitzt eine Eule, die ein Auge geschlossen hat.
Was will ich damit ausdrücken, falls mich jemand fragt? Ich werde sagen, dass Chinas beste Leute aus dieser guten Erde kommen, während die Eule die Welt betrachtet und ihre Weisheit anbietet. Doch für mich gibt es noch eine tiefere Bedeutung, die mit Schuld, Toleranz und Vergebung zu tun hat. Ja, ich habe zu viel Schwarz als Kontrast zu dem falsch leuchtenden Rot auf dem Rest des Wandbilds aufgetragen. Ja, ich habe eine Eule gemalt, die alles sieht und die sich von nichts täuschen lässt. Und ja, ich habe ein Kreuz gemalt und daran Jesus, um das Leid der Menschen zu zeigen. Soweit ich weiß, sind noch nie Missionare in diese Gegend gekommen. Wenn also jemand fragt, sage ich einfach, ich hätte eine Baumgottheit gemalt.
Ich denke, das Wandbild wird auf magische Weise mein Leben ändern. Das tut es nicht. In die Volkskommune Löwenzahn Nummer acht kommen keine Würdenträger. Brigadeführer Lai gewinnt keine Preise als Vorzeigeführer, Tao mag mich nicht mehr als zuvor, und die Leute in den Arbeitsgruppen vergessen schnell, dass ich sie für ein paar Tage von der Straßenbaumannschaft weggeholt habe.
P EARL
Eine Rosenblättertorte
D er Nationalfeiertag – Chinas Unabhängigkeitstag – ist der 1. Oktober. In diesem Jahr – 1959 – wird auch das zehnjährige Jubiläum der Volksrepublik China gefeiert, deshalb wird es der größte und beste Festtag, den es je gegeben hat. Die Leute arbeiten Tag und Nacht an der Verschönerung Shanghais. Die ganze Stadt brummt, es wird geschaufelt, gehämmert, Militärmusik gespielt. Fahnen, Laternen, bunte Lichter und Stoffbahnen schmücken Häuser, Laternenmasten und Brücken. Natürlich ist alles rot. Am Bund wird ein riesiger Torbogen errichtet, flankiert von Bäumen und Blumenbeeten. Meine Arbeitseinheit verbringt doppelt so viel Zeit auf der Straße wie sonst, jedes Stück Papier, das wir finden, wird aufgesammelt oder abgerissen. Auch mich erfasst die Begeisterung um mich herum, und ich freue mich und empfinde ehrlichen Stolz auf mein Heimatland.
Doch es heißt ja, dass sich immer alles in sein Gegenteil verkehrt. Gerade als ich mich wirklich wohl damit fühle, in China zu sein, werden in der Stadt die Lebensmittel knapp. In meinem Haushalt bekommt jeder neunzehn Pfund Reis, ein paar Esslöffel Öl zum Kochen und ein halbes Schweinekotelett pro Monat, was unter anderem zu noch mehr Gezänk im Haus meiner Familie führt als sonst. Ich versuche, die Eifersüchteleien dadurch im Zaum zu halten, dass ich gelegentlich eine Tüte Reis oder braunen Zucker mitbringe, die ich zu einem völlig überteuerten Preis auf dem Schwarzmarkt oder im Laden für Überseechinesen gekauft habe. Dort kann ich meine Sondergutscheine einlösen, für die ich derzeit sehr dankbar bin.
Ich mache mir Sorgen um Joy. Leidet sie unter der gleichen Lebensmittelknappheit wie wir in Shanghai? Ich versuche mich zu beruhigen, denn wie könnte es sein, dass die Mitglieder einer Kommune nichts zu essen hätten? Schließlich pflanzen sie die Nahrungsmittel dort an! Doch ich bin Mutter und zermartere mir den Kopf. Ich schreibe Joy und frage, wie es ihr geht. »Wie fühlst du dich?« Ich schicke Süßigkeiten und getrocknete Früchte. »Taos Geschwister mögen das vielleicht.« Aber ich höre nichts von meiner Tochter. Ja, wir hatten keinen Kontakt mehr, seit sie mir vor fast fünf Monaten schrieb, dass sie schwanger sei. Das macht mir große Sorgen, und ich liege nachts deshalb lange wach. Ich sage mir, dass sie bestimmt mit Tao und den Vorbereitungen für das Baby beschäftigt ist. Ich ermahne mich, ruhig zu bleiben, aber ich bin nicht ruhig. Ich muss sie sehen. Um sie zu sehen, brauche ich eine Reiseerlaubnis,
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