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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Stimme sagte, er werde leiden müssen, um Christus zu finden. Er ließ sich bekehren, und sowohl er als auch seine Familie wurden getauft. Er musste die Prüfungen des Herrn ertragen, aber ebenso wie Hiob verlor er nie seinen Glauben. Als er sichweigerte, Götzen anzubeten, wurde er zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern in einer Bronzestatue in der Form eines Stiers eingeschlossen und über einem mächtigen Feuer zu Tode geröstet. Unter dem Bild des Heiligen kommt ein Band mit verschiedenen kleineren Motiven zum Vorschein: Der bronzene Stier über den Flammen, das Jagdhorn, rennende Hunde, Eichenblätter und ein Jagdfalke, so wie ihn Gerbert eingehend beschrieben hat. Links des großen Bildes malt der Meister Graf Gerbert und Clementia und ihre beiden lebend geborenen Kinder. Hinter einem tiefroten Vorhang, so naturgetreu gemalt, dass man meinen könnte, es sei echtes Tuch, knien sie mit gefalteten Händen.
    Es war klug von Gerbert, einen einfachen Steintisch und ein Gemälde als Verzierung zu wählen. So kann der Altar schon am Festtag des heiligen Eustathius, dem 20. September, geweiht werden. Graf Gerbert hat versprochen, einen besonderen Reliquienschrein mit einem der Fingerknochen des Eustathius mitzubringen, der vor langen Zeiten von einem seiner Verwandten aus dem Bronzestier gerettet worden war.
    Hildegard hat die Erlaubnis erhalten, ihre Familienmitglieder auf dem Hofplatz vor der Kirche zu empfangen, als sie ankommen, um der Weihe beizuwohnen. Sie hat die Kirche aus diesem Winkel nicht mehr gesehen, seit sie vor beinahe zwölf Jahren zum Disibodenberg gekommen war, und sie traut ihren Augen kaum. Natürlich waren die Tage im Kloster von den Meißeln der Steinmetze durchdrungen, aber sie hätte sich in ihrer wildesten Fantasie nicht vorgestellt, dass das Resultat so großartig sein würde: Über dem Portal thront Gott am Tag des Jüngsten Gerichts auf seinem Herrschersitz, gekleidet in ein faltenreiches Gewand. Sein Gesicht ist streng und elegant, jede einzelne Strähne seines steinernen Bartes ist sorgfältig inden Sandstein gemeißelt. Um seinen Glorienschein ragt eine ganze Flut sechszackiger Sterne hervor, zu seinen Füßen thronen Engel mit Fackeln und Posaunen. Gott breitet die Arme zur Seite aus, wie sein lebendig gewordener Sohn am Kreuz, er trennt die Schafe von den Böcken, führt die Erretteten an seiner rechten Hand in den Garten des Paradieses und die Verlorenen zur Linken in die Hölle. Unter den Heiligen an seiner rechten Hand erkennt Hildegard sofort Maria, Petrus mit den Schlüsseln und den heiligen Disibod mit seinem Wanderstab. Zwischen Gott und den Verlorenen wachen vier beschützende Engel mit Weihrauchfässern, heiligen Schriften, Schilden und Lanzen. Das Feld über der verzierten Bronzetür ist so detailliert, dass Hildegard bei dessen Anblick schwindlig wird. Rechts sitzen die geretteten Seelen schön und ordentlich zwischen Säulen und Arkaden, aber obwohl ein heiliger Friede über ihren Gesichtern liegt, wird ihr Blick vom Chaos der anderen Seite angezogen. Ein nackter Teufel mit zottigen Haaren jagt die Verlorenen mit erhobener Keule in den Schlund der Hölle, die als ein Ungeheuer mit langer, dicker Zunge, scharfen Zähnen und kleinen, boshaften Augen dargestellt ist. Ein Mann hat schon den Kopf im Schlund des Ungeheuers, die anderen drücken sich ängstlich aneinander. Ganz unten schlagen Flammen um die Beine der Schar, ganz oben stehen die Nackten und Hageren und werden von kleinen Teufeln mit Schwänzen und Hörnern gepeinigt. Als Hildegards Blick auf einen Mönch Seite an Seite mit einer nackten Frau fällt, so gemeißelt, dass nichts verborgen bleibt, greift sie sich an die Brust.
    »›Geht weg von mir, ihr Verfluchten!‹«, flüstert sie, und Abt Kuno, der neben ihr steht, fährt fort: »›In das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln.‹«
    Obwohl sie weiß, dass er dort steht, fährt sie beim Klang seiner Stimme zusammen. Sie legt eine Hand über ihren Mund, außerstande, mehr zu sagen, so gewaltig wirken die Bilder auf sie ein.
 

 

19
      
Augen, die aus ihren Höhlen springen, Rippen, die die Körper der Verlorenen wie Aas aussehen lassen.
    Der reiche Mann kleidet sich in Purpur und liebt Luxuria mehr als den Herrn, während der fromme Lazarus am Tor des Reichen liegt und Hunde seine Wunden lecken lässt. Todesengel legen den armen Lazarus in Abrahams Schoß, während der Tod für den Reichen voller Schmerzen und Angst ist. Einer

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