Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
erhält seine Pracht auf Erden, ein anderer im Tod. Luxuria ist direkt unter den Flammen der Hölle in Stein gemeißelt, ihr nackter Körper entzündet ein Brennen im Blick. Luxuria hat langes, welliges Haar, sie leistet dem Teufel keinen Widerstand, der seinen Unterleib an sie presst, sie hebt nur ihre Hände. Luxuria spreizt ihre Beine, der Bauch wölbt sich sanft wie ein Pfirsich, des Teufels Schwanz steht geradewegs in die Luft, ein Jagdhund, der die Fährte seiner Beute aufgenommen hat. Luxuria spreizt ihre Beine, die Schlange beißt ihr in die Brüste, eine Kröte greift ihr Geschlecht an, aber sie zeigt keine Anzeichen des Leidens, nur dieses ewiglich ausdruckslose Gesicht.
Hildegard starrt und starrt auf das Relief über dem Kirchentor, starrt, bis ihr die Augen tränen. Nasse Wangen, salzige Tropfen über dem Mund. Sie sieht Hildebert so deutlich vor sich, als sei er wirklich da. Sein Gesicht ist ein Lichtfleck, der über die Steinfiguren flimmert und sich wechselweise über Lazarus und den reichen Mann legt, und sie weiß, dass alle Seelen am Jüngsten Tag gewogen werden.
Der Abt ruft nach ihr. Sie nickt, hört aber nicht, wonach er fragt. Sie lauscht dem Geräusch der Wagen, dem Knirschen der Räder zwischen Blättern und Pferdehufen. Der Bischof soll der Weihe des neuen Seitenaltars vorstehen, sein Gefolge vermischt sich mit dem Clementias und Graf Gerberts, dem Geruch nach Pferd und stehendem Flusswasser, die Sonne ist heute weich wie ein Wollknäuel.
Die Pferde haben Augen wie Frauen, lange, starke Wimpern, der feuchte Blick. Hildegard neigt den Kopf vor der Reihe von Geistlichen, rauschende Seidenumhänge, ein Ring wird ihr hingehalten, sie späht suchend nach Clementia.
Graues Licht trifft auf einen grauen Himmel, wird in Hunderte Flügel verwandelt, ein Vogelschwarm, der den Himmel zerteilt, das Licht hervorquellen lässt. Die Kirche erglüht rot und lila, der Himmel grün und golden. In der Ferne rumort ein Donner, die Vögel flüchten den Hang hinunter, hinein zwischen die schwarzen Tannen.
Hildebert warf sie hoch in den Himmel, als sie ein kleines Mädchen war. Er warf einen Strick über den Ast des Birnbaums, zurrte ein Schaukelbrett fest und rief sie Drossel und Spatz. Eine Frau kommt direkt auf sie zu, sie lächelt, aber für Hildegards Augen ist es, als triefe ihr Gesicht von Kirschsaft, es sieht aus wie Blut, duftet aber so süß.
»Hildegard, ich bin es, Clementia. Hildegard, bist du es wirklich? Du siehst wohl aus, du siehst gesund aus, du bist eine erwachsene Frau, Hildegard. Wo sind all die Jahre geblieben?«
Die Jahre, die Tage, Fischschuppen, die mit dem scharfen Messer abgestrichen werden, ein Rad, das sich dreht und dreht, bis es auseinanderfällt. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit sie sich gesehen haben.
»Ja, ich bin es, Clementia, ich danke dir und deinem Mann für den schönen Altar, den ihr unserer Kirche geschenkt habt.«
»Wir sind es, die danken. Du hast das Leben meines Mannes gerettet.«
»Danke Gott, nicht mir, ich bin nur sein armseliger Bote«, antwortet Hildegard tonlos.
»Oh, Hildegard, dass ich endlich wieder vor dir stehe! Ich wünschte, an diesem Festtag müsste ich nicht auch traurige Neuigkeiten überbringen …«
»Du musst dir keinen Kummer machen, Clementia, ich habe bereits Nachricht bekommen.«
»Was meinst du? Wer hat dir Nachricht gebracht, und worüber?«
»Vater ist tot.«
»Wer ist mir zuvorgekommen?«
»Niemand, überhaupt niemand.«
20
Hildegard hat heftige Schmerzen in den Beinen. Während der Weihezeremonie kann sie kaum stehen, der Duft des Rauchs lässt ihren Kopf schmerzen, der Schmerz verwickelt sich mit dem Gesang der Mönche und zieht sie herunter. Unendliche Reihen flacher, bräunlicher Töne, ein Schlammloch, plötzlicher Frost und dickes Eis, das an der Stirn schabt. An dem anschließenden Festessen kann sie nicht teilnehmen, Uda muss ihr ins Bett helfen.
Volmar kommt sofort, nachdem das Essen mit den vornehmen Gästen überstanden ist. Wenn er mit einer Ahle in die Außenseite ihrer Beine sticht, merkt sie es überhaupt nicht. Abersie jammert vor Schmerz, noch bevor er sich der Innenseite nähert. Die Lähmungen sind ausgeprägter, als sie es bislang waren, aber Volmar kennt weder die Krankheit noch ihre Kur. Nach der Non kommt er mit einem Extrakt aus Bilsenkraut wieder, der den Schmerz lindert und sie ruhig schlafen lässt. Jutta schließt die Läden, aber Uda folgt ihm auf Schritt und Tritt, plappernd
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