Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
und dramatisierend wie immer. Sie will den Krug mit dem Extrakt dabehalten, damit sie Hildegard mehr geben kann, wenn sie im Laufe der Nacht aufwacht, aber Volmar erklärt ihr ruhig, dass das Kraut den Tod der Patientin herbeiführen kann, wenn es nicht richtig dosiert wird. Uda schnalzt beleidigt mit der Zunge und stochert mit dem Feuerhaken in der Glut. Ihre Augen verschwinden in Falten, und obwohl sie ihm auf die Nerven fällt, fragt er nach ihren Hüften und dem Rücken. Es steht gerade so elend wie gewöhnlich um sie. Sie beklagt sich ohne einen Gedanken daran, dass Hildegard verglichen mit ihren eigenen Altersgebrechen mit größeren und kaum erklärlichen Schmerzen daliegt. Hildegard ist noch nicht eingeschlafen, sie ruft nach Volmar.
»Mein Vater«, schnieft sie.
»Ich habe es gehört«, sagt Volmar, »Graf Gerbert und Clementia haben es Kuno gleich nach der Messe berichtet.«
»Mein Vater«, wiederholt Hildegard mit geschlossenen Augen, aber Volmar beruhigt sie.
Er steht erst auf, als sie zu schlafen scheint, aber sie wimmert wie ein kleines Mädchen. »Herr, strafe mich nicht mit deinem Zorn, züchtige mich nicht in deinem Groll! Deine Pfeile sind tief in mich eingedrungen, deine Hand ruht schwer auf mir«, flüstert sie.
»Hildegard«, sagt er, »du musst schlafen.«
»Es brennt in meinen Gliedern, nichts in meinem Körper istunbeschadet. Ich bin gelähmt und vollkommen zerschlagen, mein Herz schreit vor Unruhe.« Sie spricht langsam, bewegt kaum die Lippen.
»All meine Hoffnung setzte ich auf den Herrn, er beugte sich zu mir herab und hörte meinen Hilferuf«, antwortet Volmar. Hildegard weint mit geschlossenen Augen.
»Du weinst wegen deines Vaters«, flüstert Volmar. Uda hustet, Jutta rührt sich hinter der Wand.
Hildegard schüttelt matt den Kopf. »Nein, Volmar, ich weine wegen meiner eigenen Sünden«, flüstert sie, »wegen meiner schlechten Gedanken und meines üblen Herzens. Der Herr ist gerecht, er sieht meinen Hochmut und meine Wut, er sieht meinen Trotz …«
»Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich«, flüstert Volmar, aber Hildegard ist eingeschlafen und hört ihn nicht mehr.
Der Körper gewinnt schneller an Kraft als das Gemüt. Hildegard ist schweigsam und in sich gekehrt. Die Gedanken folgen dem Rhythmus des Jahres, die Kälte und die Dunkelheit legen sich um die Stimme und ziehen sich zusammen. Wenn sie beichtet, wird jeder Gedanke und jede Erinnerung gedreht und gewendet und destilliert, sodass sie ihrem Beichtvater den trüben Bodensatz der Sünde hinhalten kann. Danach hat sie in der Regel einige ruhige Stunden, aber Morgen für Morgen erwacht sie mit demselben nagenden Schuldgefühl. Sie murmelt nicht leise vor sich hin, wie sie es normalerweise tut, wenn sie in ihre eigenen Gedanken versunken umhergeht. Sogar Volmar kann nur wenige zusammenhängende Worte aus ihr herausbekommen. Wenn sie spricht, kreisen ihre Gedanken zumeist darum, welche Buße sie tun soll, um es gegenüber dem Herrn wiedergutzumachen, und welche Sünden es sind, die sie selbst nicht sehen kann und für die er sie so hart bestraft.
Volmar sieht, wie sehr ihre Gedanken sie plagen, kennt aber keine Linderung. Auch er grübelt darüber, warum Hildegard, die sicher nicht vollkommen, aber immer bestrebt ist, sich zu verbessern, so gepeinigt werden soll, wenn andere und schlimmere Sünder offenbar verschont bleiben. Zu Beginn des Weihnachtsmonats müssen sie einen der Brüder für seine wiederholten Sünden bestrafen, indem sie ihn vom Kloster fortschicken. Er zeigte weder Mäßigung noch Demut oder Gehorsam, und keine Strafe konnte ihn dazu bringen, sich zu ändern. Volmar brachte ihn zum Tor, aber wenn er erwartet hatte, von einem schuldbeladenen und gebrochenen Menschen Abschied zu nehmen, so lachte ihm der Verstoßene gerade ins Gesicht.
Ganz gewiss wird sich die Gerechtigkeit des Herrn am Jüngsten Tag ganz und gar erfüllen, dennoch ist es schwer zu verstehen, wo in dieser Form von Ungleichheit die Gerechtigkeit zu finden ist. Volmar nimmt diese Gedanken mit in seine eigene Beichte, und der Beichtvater erlegt ihm Tage des Schweigens dafür auf, dass er sich nicht in allem, was er denkt, Gottes Willen unterordnet. Es scheint, als bemerke Hildegard nicht, ob Volmar spricht oder nicht, wenn sie Seite an Seite im Infirmarium die Kranken pflegen. Selbst bittet sie darum, weitere Strafe und Buße auferlegt zu
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