Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
Mechthild fand das alles nicht besonders komisch. Ab und zu, wenn das Kind in Gedanken versunken dasteht und in der Luft herumfuchtelt, steht Falk neben ihr, die eine Vorderpfote und die Schnauze schnüffelnd in die Luft gehoben. Es sieht aus, als könnten das Kind und der Hund etwas sehen, das den anderen verborgen bleibt. Manchmal hüpft Hildegard auf und ab und zeigt dabei vor sich hin, während der Hund ihr um die Beine springt und bellt, obwohl es eigentlich nichts zu bellen gibt. Dann bekommt Mechthild Lust, dem Hund einen Strick um den Hals zu binden und ihn an der großen Ulme auf dem Hofplatz aufzuknüpfen. Dann werden wir ja sehen, ob du fliegen kannst, murmelt sie und versetzt ihm mit dem Knie einen Stoß. Dann werden wir ja sehen, wie viele Federn dir aus deinem hässlichen Pelz wachsen .
Am liebsten geht Mechthild zu den Kühen, sie mag es, in ihre Augen zu sehen, ihre Hände auf die Stirn der Tiere zu legen, ihre Hörner zu packen und festzuhalten. Sie mag die warme Milch, die schäumend in den Eimer spritzt, wenn die Mädchen melken. Wenn sie kalben, will sie gerufen werden, und sie packt gerne mit an, um einem Kalb auf dem letzten Stück Weg in die Welt behilflich zu sein. Hildegard folgt ihrer Mutter durch den Stall. Sie geht mit hinaus zur Hürde, steht neben ihrer Mutter und sieht die großen Tiere träge kauen. Sie klettert auf den Zaun, zeigt auf sie und kennt ihre Namen. Mechthild kann weder schreiben noch lesen, aber sie kann spüren, wann die Kälber kommen. Sie erklärt Hildegard alles, was sie über die Wunder des Lebens weiß, und das Kind lauscht, während es auf der untersten Querstange steht und sich an der obersten festhält. Hin und wieder löst sie ihren Griff und lässt sich ein Stück rückwärts fallen, bevor sie den runden Balken wieder packt. Die große braune Kuh ist so alt wie du, erklärt Mechthild, und Hildegard fällt es schwer, das zu glauben. Der Bauch der Kuh ist aufgebläht, sie zittert und schwankt auf ihren wackligen Beinen. Mechthild ruft nach ihr, lockt sie mit einigen Grasbüscheln zum Zaun. Hildegard legt die Wange an das große Tier, verscheucht einige Fliegen von seinem Fell. Dann steht sie ganz still, hält die Handflächen an den Körper der Kuh und lächelt. Mechthild sagt Hildegards Namen, noch einmal, laut und deutlich, aber sie lächelt nur. Mechthild packt sie an den Schultern, schüttelt sie, bis sie erschrocken zusammenzuckt.
Die trächtige Kuh ist ein kochender Kessel. Hildegard macht es Spaß, mit ihren Fingern den Adern zu folgen, die sich über dem gespannten Bauch abzeichnen. Es sind umgekehrte Flüsse, die sich nicht in die Erde graben, sondern in die Luft wölben. Wenn sie eine Ader zusammendrückt, beult sie sich auf der einen Seite ihres Fingers aus und wird dicker.
Mit ihren scharfen Zähnen reißt die Kuh Gras aus der Erde, ihr Maul glänzt. Hildegard lässt ihre Hände auf dem Tier ruhen, es zittert. Süßer, warmer Duft aus Leben, süßes, warmes Milchtier, flüstert sie und lacht. Lacht, weil sie plötzlich direkt auf das Kalb sehen kann, das im Bauch seiner Mutter schwebt, sie sieht es in einem Lichtblitz, sieht es wie einen Schatten auf dem Feld stehen, schwarzäugig und unsicher auf den Beinen. Sie sieht, dass es Schmuck um den Hals und am Vorderbeinträgt, einen Kranz aus Steinen und Perlen, kreideweiß und kohlschwarz, und sie lacht.
Mechthild steht direkt neben Hildegard, aber trotzdem schreit sie laut. Sie schüttelt Hildegard am Arm, dass es weh tut und sie vom Zaun herunterpurzelt.
»Das Kalb hat eine Halskette und einen Armreif«, sagt Hildegard. Die Kuh macht einen schwerfälligen Schritt vorwärts gegen den Zaun. Mechthild thront über ihrer Tochter in der Luft, sieht sie mit Mirabellenaugen an, ernst und schweigend.
»Welches Kalb?«
»Das Kalb der Kuh.«
»Welcher Kuh?«
»Der Kuh!«
Mechthild lässt ihren Blick auf Hildegard ruhen, warnend und wachsam.
»Das ist dumm, Hildegard, man kann ein Kalb nicht sehen, bevor es geboren ist. Das ist dumm«, zischt sie, und das Kind duckt sich. Mechthilds Handfläche ist bleich und fleischig, kühl wie ein Licht. Knallend trifft ihre Hand auf den Zaunpfahl. »Du hältst dich zurück, hörst du! Und schweigst still.«
Später, als die Kuh kalbt, untersucht Mechthild das Tier, es ist ihre beste Milchkuh. Hildegard will mitkommen, und Mechthild streicht ihr über das dünne Haar.
Das Kind steht zwischen Agnes und Mechthild und sieht das Kalb auf die Welt kommen,
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