Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ihre Augen sind die ersten, die auf dem zusammengekrümmten, nassen Kalb ruhen. Eine Woge aus Schleim und Blut, aus Wasser und einem gärigen Geruch nach feuchtem Stroh breitet sich im Stall aus. Mechthildlegt eine Hand auf die Schulter ihrer Tochter, während sie zusehen, wie die Mutter ihr Kalb von seinen Geburtskleidern befreit.
»Mutter, Agnes, seht«, sagt Hildegard, »es hat Edelsteine und Perlen in seinem Fell, genau so, wie ich es gesehen habe.«
Die Kuh leckt das goldene Fell ihres Jungen, rhythmisch und raspelnd. Das Kalb hat eine Kette aus regelmäßigen, weißen Flecken um den Hals, eine Reihe schwarzer Flecken oberhalb der Klaue. Und Mechthild sieht es. Pst, pst, sagt sie zu ihrer Tochter, aber sie sieht es. Und in ihrem Blick ist keine Wut, keine Sorge, keine Freude. Sie nickt ein einziges Mal, und Hildegard schweigt. Lange stehen sie da und betrachten das schmuckvolle Kalb. Ein Brunnen aus bangen Ahnungen tut sich in Mechthilds Gedanken auf. Hildegard bemerkt es nicht, spricht mit dem Kalb, nennt es kleine Fürstin. Agnes weicht dem Blick des Kindes aus. Jedes Mal, wenn Hildegard sie ansieht, hat Agnes den Zipfel ihrer Schürze in den Händen und knetet ihn in verzweifelter Verlegenheit, während sie starr geradeaus schaut.
»Agnes soll es bekommen«, sagt Mechthild kühl.
»Ja aber, Frau!« Agnes schlägt die Hände auf die Wangen.
»Das Kalb, Mutter?«, fragt Hildegard, ohne den Blick von dem Tier abzuwenden.
»Ja aber, Frau!«
»Ja, das Kalb, Hildegard. Agnes, bring es hinunter zu deiner Mutter, sobald es abgesetzt ist.« Sie dreht sich um und geht in Richtung der Stalltür, will hinaus in den Tag, der nicht dunkel wie ein Brunnen ist. In der Tür dreht sie sich noch einmal um und zeigt auf Agnes.
»Aber es heißt nicht Fürstin.«
»Nein, Frau.«
»Wie heißt es dann, Mutter?«, fragt Hildegard und blinzelt in das Licht, das zur Stalltür hereinfällt.
»Sonntag, Hildegard. Es heißt Sonntag.«
11
November 1104
Hildebert kommt aus Sponheim mit der Nachricht, es seien bald Gäste in Bermersheim zu empfangen. Ursula und ihr Mann Kuntz, Kristin und Georg, der Herzog und die Herzogin von Sponheim sowie ihr gesamtes Gefolge. Obwohl sie auf ihrem Weg zur Domkirche in Worms nur eine Nacht bleiben, steht das Haus in den Wochen bis zur Ankunft der Gäste Kopf. Der Vormittagsunterricht fällt aus, alle müssen helfen. Es ist November, Schlachtzeit. Die Schweine werden aus dem Wald, wo sie sich an Eicheln und Bucheckern fett gefressen haben, zurück zum Hof getrieben und geschlachtet, zusammen mit den ältesten Tieren, die es nicht mehr wert sind, den Winter hindurch gefüttert zu werden. Es wimmelt von Leuten aus dem Dorf, die beim Schlachten helfen sollen. Die Jungen werden in den Wald geschickt, um Brennholz zu sammeln, damit auf dem Hofplatz Feuer angezündet werden können. Die Schweine werden eins nach dem anderen auf die Schlachtbank gelegt. Wenn den Tieren der Hals aufgeschnitten wird, läuft das Blut in den großen Holzbottich. Mechthild selbst rührt das Blut immer wieder durch, sodass es nicht gerinnt; es wird für die Würste gebraucht. Mit beiden Händen packt sie zu, führt den riesigen Spatel durch das Blut, rund herum und herum, dass er mit einem langgezogenen Raspeln über den Boden des Bottichs schabt, bis ihr der Schweiß ausbricht. Es ist eine mühsame Arbeit, denn das Blut ist dick und dunkel, und wenn kein Blut mehr sickert, muss das Schwein mit kochendem Wasser übergossen und saubergeschrubbt werden, bevor es aufgehängt werden kann, um auf der Bank Platz für das nächste zu schaffen. Mechthild ruft den Kleinsten zu, sie sollen sich von den Wannen mit Wasser fernhalten, die über den Feuern auf dem Hofplatz hängen. Einmal alberte der Sohn einer der Frauen herum und stieß eine Wanne um. Das heiße Wasser ergoss sich über ihn, verbrannte Haut und Fleisch. Die Schweine hängen in Reih und Glied mit den Köpfen nach unten, der Bauch wird aufgeschnitten, sodass die Gedärme in violetten Girlanden hervorquellen. Erst gegen Abend sind die toten Körper der Schweine kalt und das Fleisch kann geschnitten und in das Fass gelegt werden, in dem sich überschüssiges Salz an der Oberfläche des gelblichen Wassers in zerbrechlichen und kantigen Mustern sammelt.
Mechthild mag das emsige Treiben, sie riecht nach Rauch und Tran und Tierblut, ruft Anweisungen hierhin und dorthin, nimmt sie zurück und ändert sie, jedes Mal, wenn ihr eine neue Idee für das Festessen kommt. Die
Weitere Kostenlose Bücher