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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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bringen wird.
    Im Saal warten die Gäste zusammen mit Mechthild und Hildebert. Als Agnes sie durch die Tür schiebt und im Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden ist, macht Hildegard einen Knicks, ohne aufzusehen. Sie hört ihrem Gespräch zu, verliert aber die Konzentration, da es ausschließlich um Zusammenhänge geht, die sie nicht versteht. König Heinrich und Bischof Ruthard werden erwähnt, aber sie kennt sie nicht. Sie streckt Arme und Beine und einmal gähnt sie so laut, dass das Gespräch zwischen den Erwachsenen verstummt. Mechthild sieht sie streng an, aber Juttas Augen lächeln. Sie streicht Hildegard übers Haar, als würde sie sie kennen, nimmt ihre Hand und bittet ihre Mutter um Erlaubnis, mit dem Kind einen Spaziergang im Garten machen zu dürfen.
    Jutta ist die schönste Frau, die Hildegard je gesehen hat. Im Obstgarten sagt sie es zu ihr, geradeheraus und ohne darüber nachzudenken, ob es passend ist.
    »Du bist so schön«, sagt sie einfach und lässt Juttas Hand los.
    Jutta lächelt, sie antwortet nicht, gibt ihr aber auch nicht das Gefühl, sie habe etwas Falsches gesagt, so wie Agnes oder Mechthild oder ihre Geschwister es getan hätten.
    »Erhältst du Unterricht im Lesen?«, fragt Jutta stattdessen und nimmt wieder Hildegards Hand, geht weiter zwischen den Bäumen umher. Bienen und Wespen scharen sich um gelbe und lila Pflaumen im Gras.
    »Ich soll zuerst acht werden«, antwortet Hildegard, und ihre Handfläche schwitzt.
    »Du bist acht«, sagt Jutta, während sie weiter durch das Gras bis zur Steinmauer gehen.
    »Es soll erst Winter sein«, antwortet Hildegard, denn Hildebert hat sie hingehalten und gesagt, es wird erst so weit sein, wenn die Ernte eingebracht ist.
    Jutta lacht, sie will hinunter zum Bach, und Hildegard zeigt ihr den Weg. Sie schlägt einen Bogen um die Stelle, an der sie die Kreise in die Erde geritzt hat. Dort ist es zu schlammig, sagt sie, denn Jutta wird nach dem Kreis aus Steinen fragen, und sie weiß nicht, wie sie es erklären soll. Der Rohrkolben steht aufrecht und reckt seine braunen Kolben in die Luft, um sie vor den Stellen zu warnen, an denen das Wasser tief wird.
    Hildegard weist Jutta den Weg zu den breiten, flachen Steinen, wo sie selbst so gerne sitzt.
    Jutta geht in die Hocke und schließt die Augen. Ihre Hände und Arme sind schmächtig, obwohl sie runde Wangen hat. Gelbrandkäfer und Wasserläufer tanzen über das Wasser, ein Fisch schnappt perfekte Kreise in die Oberfläche, die träge davonwippen und von dem grünbraunen Wasser verschluckt werden. Eine Ruhe fällt über Hildegard, sie klemmt ein Schilfrohr mit ihren Nägeln ab, sieht einem Schatten nach, der unter der Oberfläche dahingleitet. Jutta seufzt. Eine Libelle steht mit schwirrenden Flügeln still in der Luft, und Hildegard streckt die Hand nach ihr aus.
    »Das ist ein schönes Geschöpf«, sagt Jutta. »Sieh, wie das Licht in seinen Flügeln spielt. Und sieh, die Becherjungfer und den Blattkäfer dort«, Jutta dämpft die Stimme und zeigt auf den Käfer, der einen Hahnenfuß als Wippe benutzt, »welch feine Kleider sie heute angelegt haben.«
    Hildegard wird von einer feierlichen Stimmung erfasst. Sie betrachtet den kleinen, grünlich schimmernden Käfer, der seine Reise zwischen den Blättern des Hahnenfußes fortsetzt. Sie kennt die Namen vieler Tiere und Pflanzen, sagt sie oft vor sich hin und freut sich über sie.
    »Der Herr hat all diese Schönheit geschaffen, um uns zu erfreuen«, lächelt Jutta und nickt Hildegard zu.
    Hildegard nickt ebenfalls. Er hat Jutta geschaffen, denkt sie, und sogar sie selbst, auch wenn es kaum zu glauben ist, dass er sie mit derselben Hand geschaffen hat.
    »Bettlerhahnenfuß«, sagt Jutta und zeigt auf die gelben Blüten, die sich in großen Büscheln im sanften Wind wiegen, »weißt du, warum er diesen Namen bekommen hat?«
    Hildegard antwortet, sie wisse, man könne den Saft gegen Warzen verwenden, und ist stolz, als Jutta ihr über die Wange streicht.
    »Man sagt, die Bettler schmieren sich die Haut mit dem Saft der Pflanze ein, das gibt Ausschlag und Blasen auf der Haut. So werden sich die Leute ihrer eher erbarmen«, erklärt Jutta und hält einen Stängel zwischen zwei Fingern.
    Hildegard denkt an einen beinlosen Mann, den sie einmal auf dem Marktplatz in Mainz sah. Er schob sich mit Hilfe seiner Arme vorwärts, und seine Wangen waren von schorfigen Krusten bedeckt. Sie hatte Mitleid mit dem Mann gefühlt und war vor ihm stehen geblieben, bis

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