Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
erschaffen hat, dann auch ein Tier? Da sind Seidenbänder, die sich zu einem großen, unordentlichen Ballen verwickeln, und jedes Mal, wenn sie an einem losen Ende zieht, um den Ballen abzuwickeln, binden sich Knoten und die Bänder ziehen sich fester zusammen.
Drei Tage später regnet es, und die Erde schmatzt unter Hildegards Füßen, besudelt den Saum ihres Kleides. Die Kreise sind beinahe fort, aber der Kranz aus Steinen liegt immer noch dort. Sie berührt ihn mit dem Fuß, sie freut sich, sie versteht Gottes Zeichen. Er lässt den Schlüssel zum Paradies in der Sonne funkeln, er hat Benedikta in sein Reich eingelassen.
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Sophia und Jutta von Sponheim fahren in einem breiten, offenen Wagen durch das Tor und machen vor dem Stallgebäude halt. Juttas großer Bruder Meinhardt und zwei Knappen reisen zu Pferd, große, glänzende Tiere, noch rassiger als Hildeberts. Der zahnlose Heine kommt eilig herbei, verbeugt ich vor der Herrschaft und hält die schweißtriefenden Pferde, während der Kutscher vom Bocksitz springt. Heine gibt sich Mühe, nicht die vornehmen Leute im Wagen anzustarren, und obwohl Jutta in ihrer jugendlichen Schönheit strahlt, ist es Sophia, von der er die Augen kaum lassen kann. Meinhardt hilft zuerst seiner Mutter, dann seiner Schwester von dem Wagen herunter. Hildebert kommt aus der Dunkelheit des Tores, begrüßt alle drei freundlich, besonders Sophia, deren Hände er an seine Lippen führt.
Als Mechthild endlich dazukommt, hat Hildebert ihnen auf Sophias Aufforderung hin bereits alle Gebäude gezeigt, die den Hofplatz umgeben. Mechthild sieht fürchterlich aus, hat aber im Gegensatz zu den vorherigen Wochen, als sie die Strähnen einfach hängen ließ und sich nicht die Mühe machte, Hände oder Gesicht zu waschen, immerhin das Haar frisiert und den Zopf unter den Schleier gesteckt. Wegen des besonderen Anlasses hat sie heute das dunkle Wollkleid, das sie seit Benediktas Tod trägt, gegen ein passenderes Seidenkleid ausgetauscht. Sophia und Meinhardt begrüßen Mechthild freundlich. Einen Schritt hinter ihnen steht Jutta in einem groben und einfachen Kleid. Sie tritt als Letzte zu Mechthild hin. Hell und fein ist sie, rank und schmal wie ein Kind, obwohl sie einen Busen und das Gesicht einer Frau hat. Sie ist sechzehn Jahre alt, älter als Clementia. Mechthild macht einen Knicks vor dem jungen Mädchen, das ihre Hand nimmt und flüstert, es tue ihr leid, von Mechthilds Verlust zu hören. Es wärmt Mechthild, dass Jutta Benedikta erwähnt, sie kann die Hand des jungen Mädchens beinahe nicht loslassen. Jutta legt einen Augenblick ihre Hand an die Wange der Frau des Hauses. Obwohl sie noch so jung ist, hat sie eine tiefe Furche zwischen den Brauen.
Hugo wurde geschickt, Hildegard zu holen, die bei Agnes sein sollte, die das Kind aber wie gewöhnlich aus den Augen verloren hat. Hugo springt herum auf der Suche nach seiner Schwester, aufgeregt über den vornehmen Besuch, ruft nach Hildegard, kennt ihre Verstecke und findet sie wie erwartet am Bach. Er bringt sie zu Agnes, die sie an den Haaren zieht, weil sie ihrer eigenen Wege geht, obwohl sie doch Bescheid bekommen hat, ihr zu folgen. Hildegard verteidigt sich nicht, aber die Art, auf die sie es nicht tut, ist schlimmer, als würde sie Widerworte geben. Agnes zerrt sie den ganzen Weg hinauf bis zum Haus, und Hildegard lässt sich mitziehen, ohne sich zu wehren. Agnes weist sie an, das verdreckte Kleid auszuziehen, und schickt das Dienstmädchen, saubere Sachen für das Kind zu holen, während sie grob und rücksichtslos Hildegards Haar löst und den Kamm durch die sparsame Pracht jagt. Sie hilft ihr in ein sauberes Kleid, streicht den Stoff über dem Körper des Mädchens mit beiden Händen zurecht, betrachtet sie kritisch und fragt sich nervös, ob es passend ist, die feinen Gäste in dem Kleid zu empfangen, das sie auch bei Clementias unglückseliger Hochzeit trug. Hugo überbringt den Bescheid, das Kind solle ordentlich hergerichtet und direkt in den Speisesaal geschickt werden. Obwohl die Frau des Hauses es nicht offen gesagt hat, spürt Agnes doch, dass etwas im Werden ist, das Hildegards Zukunft betrifft, und es macht sie unruhig, nicht genau zu wissen, was es ist. Es ist schwer, das Herz nicht an die Kinderder Herrschaft zu hängen. Über Hildegard hat sie so viele Nächte gewacht, dass all die Unruhe sich zu einer Liebe gesammelt hat, die schmerzt wie ein Geschwür bei dem Gedanken an den Abschied, den die Zukunft
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