Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
anderen Orten schwelt die Unruhe, deshalb will sich der Herzog mit seinen Männern beraten. Ausnahmsweise einmal machte sich Hildebert die Mühe, Mechthild die Zusammenhänge zu erklären, sodass sie nicht protestieren und ihn bitten konnte, Trauerzeit für seine Tochter zu halten. Es war der alte Kaiser, der Erzbischof Ruthard ins Exil geschickt hatte, und jetzt, nach seiner Rückkehr, ist er auch denen zu Dank verpflichtet, die den neuen König unterstützt haben, was sich als Vorteil für Hildegard erweisen kann.
Hugo begleitet seinen Vater, Irmengard und Odilia laufenEstrid oder Agnes nach und gehen ihnen zur Hand, Hildegard dagegen geht mehr und mehr umher, wie es ihr passt. Einmal folgt sie ihrer Mutter zum Friedhof. Als Mechthild entdeckt, dass sie ihr nachläuft, wird sie wütend und schickt sie nach Hause.
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Am Rand des Bachs schaukelt ein toter Frosch. Der weiße Bauch zeigt nach oben, und als Hildegard ihn mit einem Stöckchen auf ein Blatt bugsiert, reißt ein Loch in die Haut. Sie sammelt tote Fliegen, tote Spinnen und eine Hummel auf der Handfläche. Sie legt die Insekten, die der Frosch hätte fressen können, wenn er noch am Leben wäre, in einem Kranz entlang der Kante des Blattes.
Hildegard erwacht beim Morgengrauen. Das erste Tageslicht sickert durch die Ritzen der Fensterläden. Lichtstreifen tanzen und ballen sich zu Klumpen zusammen, werden zu einem regenbogenfarbenen Ei, das entzweibricht. Von den zerbrochenen Schalen strahlt ein pulsierendes, farbloses Licht, ein lebendes Licht, das stärker als die Sonne scheint. Hildegard hat keine Angst, obwohl das Licht ihre Brust und ihre Stirn durchdringt, denn es erfüllt sie mit einem seligen Frieden. In dem Licht sieht sie den toten Frosch vom Tag zuvor, sieht Kreise, die sich wie sich drehende Flammenräder ineinanderfügen. Das Licht ist lebendig, es spricht mit der Stimme, die sie kennt und mehr liebt als irgendetwas anderes. Es erzählt ihr genau, wie Himmel und Erde in einer schönen Symmetrie angeordnet sind.
Als sie durch den Obstgarten geht, sieht sie ein Vogeljunges, das aus dem Nest gefallen ist. Es liegt mit nach hinten verdrehtem Hals im Gras. Sie trägt es hinunter zur Leichenparade und legt es genau gegenüber vom Frosch ab.
Hildegard tritt einen Schritt zurück und betrachtet die Anordnung. Sie hatte Agnes gefragt, wie sie sicher sein konnten, dass Benedikta wirklich tot ist und nicht bloß an einen Ort geschickt wurde, wo niemand ihre Schande kennt. Agnes' Augen wurden schmal, sie antwortete nicht. Hildegard starrt in die Sonne, solange sie kann.
Hildegard arrangiert neu. Rupft Gras aus und legt feuchte Erde bloß, die sie mit den nackten Füßen eben und glatt stampft. Mit einem spitzen Hölzchen ritzt sie ein Zeichen in die Erde. Kreise um Kreise herum. Das sind sie selbst und ihre Geschwister, sie ist der kleinste Kreis in der Mitte. Sie zeichnet zwei weitere Kreise, sehr dicht beieinander direkt außerhalb ihres eigenen. Es sind die Zwillinge, die starben, bevor sie geboren wurden. Sie hatte ihre Mutter gefragt, ob es Platz für sie, Hildegard, gegeben hätte, wenn sie überlebt hätten, aber Mechthild tat so, als habe sie die Frage nicht gehört. Jetzt ist es still in dem großen Haus, selbst während der Mahlzeiten. Nur die Wände jammern, und Mechthilds Gedanken rauschen wie der Wind.
Hildegard findet kleine Steine und legt sie auf der Innenseite des Kreises ab, der Benedikta ist. Unter den Kreis legt sie den Vogel und darunter den Frosch. Darunter wiederum die Hummel, dann die Spinne, danach die Fliegen und ganz unten drei tote Ameisen.
Es ist so, als lege man Balken aufeinander, um ein Haus zu bauen. Gott ist über den Menschen, der Mann über der Frau über dem Kind über den Tieren. Die Tiere in Reih und Glied. Der Vogel, der den Frosch frisst und sich etwas von dessen Kraft aneignet, so wie sich der Mensch die des Ochsen aneignet. Es ist ein Gewimmel aus farbigen Seidenbändern, die sich auseinander- und ineinanderschlängeln und vor ihren Augen tanzen. Sie konzentriert sich auf die Ordnung, die sie in dem lebenden Licht sah. Aber außerhalb der Rangordnung ist da etwas, das allem, was sich aus eigener Kraft bewegt, gemeinsam ist. Steine atmen nicht auf die gleiche Weise wie Tiere und Menschen, Metall und Wasser und Eis auch nicht. Ist der Mensch ein Tier? Mit den gleichen Augen und Gliedmaßen, mit einem Atem, der aufhören kann. Ist Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbild
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