Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
Vom Netzwerk:
Mechthild sie weggezogen hatte. Dass jemand sich selbst Schmerzen zufügt, versteht sie nicht.
    »Ich habe etwas, das du sehen sollst«, sagt Hildegard und springt auf. Sie wird plötzlich mutig und will Jutta die Kreise zeigen, sie will ihr erklären, wie sie die Rangordnung in dem lebenden Licht gesehen hat. Sie trippelt unruhig vor Jutta hin und her, die zunächst nicht so aussieht, als wolle sie aufstehen. »Es ist etwas, das ich gesehen habe.«
    Jutta hört geduldig zu, während Hildegard zeigt und ihr von den Kreisen und den Steinen und den toten Tieren berichtet, die jetzt fort sind. In ihrem Eifer tritt sie verkehrt und sinkt bis zum Knöchel in den Schlamm, sodass Jutta sie wieder herausziehen muss, aber das bremst den Wortschwall nicht. Erst als sie meint, sie habe das Ganze so gut erklärt, dass sie selbst es verstehen würde, schweigt sie. Jutta sieht sie lange schweigend und ernst an.
    »Ich bin froh darüber, dass du es mir zeigen willst«, sagt sie dann. »Hast du es deiner Mutter gezeigt? Oder deinem Vater?«
    Hildegard sieht hinunter auf ihre verschmutzten Schuhe und schüttelt den Kopf.
    »Deinen Geschwistern aber?«, setzt Jutta nach und versucht vergeblich, Hildegards Blick aufzufangen.
    Hildegard schüttelt wieder den Kopf. Sie beißt sich in die Unterlippe und wickelt eine Haarlocke um ihren Finger.
    »Überhaupt niemandem?«
    »Nein«, antwortet Hildegard heftig. Sie hat Tränen in den Augen, die sie mit der Rückseite ihrer Hand abwischt. »Sie lachen mich aus, sie sagen …« Sie zögert, aber Jutta nickt nur, um sie dazu zu bringen, weiterzusprechen. »Sie sagen, ich sei verrückt«, flüstert sie leise und lässt zum ersten Mal seit Benediktas Tod den Tränen freien Lauf.
    Jutta legt eine Hand auf Hildegards Kopf. Sie streicht ihr ein einziges Mal übers Haar, zieht sie aber nicht an sich.
    »Was sagen deine Mutter und dein Vater?«
    »Meine Mutter …«, Hildegard blickt auf den Steinkreis im Schlamm, »sie sagt, es wird mir übel ergehen, wenn ich jemals zu jemandem so spreche, wie ich zu dir gesprochen habe«, flüstert sie. »Meine Mutter ist …« Sie bremst sich, es ist Sünde, schlecht über seine Eltern zu sprechen, und sie weiß auch nicht,ob sie selbst es ist, die sich irrt, oder Mechthild. Stattdessen schüttelt sie den Kopf.
    »Dein Schweigen ist eine gute Antwort«, sagt Jutta und nimmt Hildegard an der Hand wie zuvor. »Jetzt gehen wir zurück zum Speisesaal.«
    Hildegard versteht Juttas Reaktion nicht und denkt angestrengt darüber nach. Es fühlt sich gut an, an Juttas Hand zu gehen, und obwohl sie vor ein paar Stunden noch eine Fremde war, hat Hildegard jetzt das Gefühl, sie zu kennen.
 
    Hildegard sträubt sich mit allen Kräften dagegen, doch sie wird nach dem ersten Gang von Erschöpfung und Kopfschmerzen übermannt. Hugo und Irmengard lachen laut, als sie die Stirn auf die Tischplatte sinken lässt. Mechthild sieht sie mit ihrem gleichgültigen und durchsichtigen Blick an, und es ist Hildebert, der Agnes die Order geben muss, seine Jüngste zu Bett zu bringen. Als Hildegard den Tisch verlässt, nickt Jutta ihr zu, ernst und ohne zu lächeln, sodass die senkrechte Furche zwischen ihren Brauen deutlich hervortritt.
    Der letzte flüchtige Anblick Juttas am Tisch ist das Erste, woran Hildegard denkt, als sie aufwacht. Sie fürchtet, dass es doch falsch war, ihr den Steinkreis am Bach zu zeigen. Vielleicht hat sie es Mechthild und Hildebert gesagt, vielleicht Sophia und Meinhardt, die jetzt auf sie herabsehen werden. Sie holt Mechthilds schwarzes Steinpferd unter der Decke hervor und reibt es gegen ihre Lippen, um sich selbst zu beruhigen. Sie ist voller Angst und Scham, weil sie gegen Mechthilds Gebot verstoßen hat, niemandem von dem zu erzählen, was sie hört und sieht.
 
    Jutta grüßt sie mit der gleichen Freundlichkeit wie am Tag zuvor, und die anderen Erwachsenen sehen so aus, als würden sie sie kaum bemerken. Hildegard ist erleichtert und trippelt leichtfüßig wie ein Fohlen, während die Gäste in den Wagen steigen. Sie hält Hildeberts Hand, sie ist warm und trocken, und er drückt ihre ein paar Mal so fest, dass es weh tut. Auch Mechthild ist herausgekommen, um Abschied zu nehmen. Hildebert schämt sich seines Eheweibs, die ihren Gefühlen freien Lauf lässt. Hildegard streicht ihrer Mutter über den Arm, als der Wagen zum Tor hinausrumpelt, aber Mechthild macht auf dem Absatz kehrt, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und verschwindet im

Weitere Kostenlose Bücher