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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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den einen Augenblick über etwas aufregt, das sie nichts angeht, und den nächsten nur dasteht und dumm glotzt.
    »Ja?«, sagt Sophia beherrscht. »Dann laden wir auch Ursula und Kuntz ein … und vielleicht Kristin und Georg. Es ist schon viel zu lange her, dass ich Gelegenheit hatte, mit Hildeberts Schwester und Schwager zu sprechen, und wenn Hildegard mit Jutta ins Kloster soll, bringt das die Familien nur noch enger zusammen als zuvor.« Sie strahlt. Hebt die Hand und klopft ihrem Sohn unbeholfen auf die Schulter.
 
    Obwohl es keine große Gesellschaft ist, freut sich Sophia, etwas zu haben, worum sie sich in der kommenden Woche kümmern kann. Man isst gut bei Sophia von Sponheim, das weiß ein jeder, und sie macht sich Mühe damit, die Gerichte zu planen. Der Gedanke an Meinhardt und Hildebert im Hurenhaus quält sie immer noch. Meinhardt hat sie rasch aus ihren Gedanken verdrängt. Er ist jung und noch nicht zur Ruhe gekommen, und daher wäre es dumm zu erwarten, er würde leben wie ein Mönch. Hildebert dagegen taucht immer wieder auf, sie sieht seinen nackten Oberkörper, die breite, weiße Narbe, die quer über das Schlüsselbein verläuft und an der Brustwarze endet. Sie erschauderte, als sie die Narbe zum ersten Mal sah. Ein süßer und wonnevoller Schauder, während er erzählte, wie er sie in genau jener Schlacht abbekommen hatte, in der er auf dem Schlachtfeld zum Ritter geschlagen worden war. Und als sie andie Narbe denkt, weiß sie im selben Augenblick, dass sie Hildebert nicht nach seiner Tochter fragen wird. Jutta und Hildegard ins Kloster zu geben wird Gott dazu bewegen, sie alle am Tag des Jüngsten Gerichts mit milderen Augen zu betrachten. Sowohl Meinhardt als auch Hildebert sind da klug, wo sie dumm ist, wenn sie den Bischof mit Angeboten reicher Gaben für sein neues Kloster überhäufen. Sie schlägt sich vor die Stirn und lacht. Mitten zwischen gerupften Hühnchen und abgezogenen Mandeln lacht sie, sodass das Küchenmädchen zu ihr hinüberschielt, lacht, dass es sich anfühlt, als zerberste etwas in ihr.
    Jutta, die sonst immer für sich alleine ist, wenn Gäste kommen, freut sich auf die bevorstehende Zusammenkunft. Natürlich wird sie teilnehmen, dazu fühlt sie sich verpflichtet. Das wird ihr die Möglichkeit geben, mit jemandem über die Klosterpläne zu sprechen, dem diese ebenfalls im Sinn liegen.
    Jutta plagt Meinhardt fortwährend mit Fragen danach, wann man Antwort vom Erzbischof erwarten könne, bis er wütend wird und die Stimme hebt, und sie zu weinen beginnt. Natürlich kann er nicht des Bischofs Gedanken lesen, aber er hat mehr Erfahrung mit Briefwechseln als sie, und es war nichts weiter als eine Vermutung, um die sie ihn gebeten hatte. Stattdessen sind sie in Streit geraten, und er läuft noch gereizter herum als gewöhnlich.
    »Hildegard kommt sicher bald, ungeachtet, ob der Erzbischof zu antworten vermag oder nicht«, sagt Meinhardt beim Abendessen in dem Versuch, sich zu versöhnen.
    Aber Jutta fasst es genau gegenteilig auf und bekommt wieder Tränen in die Augen. Er soll nicht glauben, dass sie der Einsamkeit bereits überdrüssig sei, aber sie will ihm keine Widerworte geben und teilt stattdessen den Fisch mit ihrem Löffel in winzig kleine Stücke, während sie auf ihren Teller starrt.
    Nachts träumt Jutta von Hildegard. Das Kind weint Blut und breitet zu Jutta gewandt ihre Hände aus, die ihr nicht zu Hilfe kommen kann, weil dorniges Gesträuch um ihre Füße emporwächst. Als sie aufwacht, hat sie Angst und ist genauso müde, als habe sie überhaupt nicht geschlafen. Es kommt ihr vor, als sei jemand bei ihr in der Kammer. Sie zieht die Decke über den Kopf, liegt ganz still und lauscht. Sie denkt die ganze Zeit daran, dass ihre Angst eine Sünde ist. Vater Thomas hat ihr gesagt, sie solle furchtlos durch die Dunkelheit wandeln, um Gott zu finden, aber diese Dunkelheit verbleibt voller Angst und unsichtbarer Feinde. Er wird dich mit seinen Fittichen decken, flüstert sie, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln . Durch die Tür kann sie das Dienstmädchen schnarchen und sich regen hören. Sie findet Ruhe in den vertrauten Geräuschen und schläft wieder ein. Dieses Mal träumt sie, die Klosterzelle sei ein wirkliches Grab, in dem sie in den Schlamm sinkt und ruft, ohne dass sie jemand hören kann. Als sie bis zum Hals im Schlamm steht, sieht sie Hildegards Kinderhand direkt vor sich aus der Erde ragen.
 
    Jutta ist erschöpft von Alb- und Wachträumen.

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