Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)
ist, hat sie, seit sie ganz klein war, große Stärke im Glauben gezeigt. Sie ist ein gehorsames und demütiges Kind, das mit Milde und Liebe auf Erden wandelt und nie ein Wesen um sich selbst macht, aber doch von einem jeden bemerkt wird. Ihre Eltern haben es nach reiflichen Überlegungen für richtig befunden, mich zu bitten, ihr jüngstes Kind zu mir zu nehmen und es im Glauben an den wahren, ewigen Gott zu erziehen. Daher bitte ich Euch inständig darum, mir zu erlauben, es mit zum Disibodenberg nehmen zu dürfen. Da Hildegard nur ein Kind ist, werden wir eine fromme Witwe mit ins Kloster bringen, die für die Bedürfnisse des Kindes sorgen kann, welcher dieser Welt angehören. Wer diese Frau ist, hat mir der Herr noch nicht offenbart, aber mit meiner demütigen Kenntnis Seiner barmherzigen Güte weiß ich, dass Er sie mir zeigen wird, sobald die Zeit gekommen ist.
Mein Bruder, Meinhardt, wird nach Beratung mit den Mönchen und dem Abt dafür Sorge tragen, dass des Kindes Kammer und meine Zelle auf die bestmögliche Weise errichtet werden, sodass ich fortgesetzt als Inklusin leben und doch für die Unterweisung dieses von Gott geliebten Kindes Sorge tragen kann.
Als Hildegards Vater vor Monaten meine Mutter, die Gräfinwitwe Sophia von Sponheim, in dieser Angelegenheit hier im Zuhause meiner Kindheit aufsuchte, da verstand ich, wie sehr es ihm am Herzen liegt, Hildegard möge mir in mein Refugium folgen. Zunächst erschrak ich über seinen Vorschlag. Sollte ein Kind von zehn oder elf Jahren wie eine Inklusin im Kloster leben? Würde ich sündige und schwache Seele es auf mich nehmen können, ihre Erziehung in einem Leben mit dem Herrn zu verantworten? Ich brachte meinen Zweifel zum Ausdruck, wie hätte ich anders gekonnt? Aber da ich die Sorge in sowohl seinen als auch meiner Mutter Augen sah, musste ich einwilligen, das Kind zu sehen, welches so außergewöhnlich sein sollte.
Diese Begegnung, die ich gerade beschrieben habe, fand vor wenigen Wochen statt, und ich durfte erfahren, dass die Rede Wahrheit sprach und nicht nur Ausdruck der Liebe des Vaters zu seiner Tochter war. Nachdem ich eine Weile mit Hildegard verbracht hatte, kniete ich alleine in meiner Kammer nieder und bat den Herrn von ganzem Herzen, mir in dieser schwierigen Frage beizustehen. In der Kammer in diesem Heim, wo Hildegard bislang gelebt hat, hörte ich Gott zu mir sprechen. Es war eine klare und deutliche Stimme, die sagte: Es möge geschehen. Da erfüllte mich eine große Freude, und da sah ich vor mir, wie die Engel des Herrn ihre Flügel um mich und dieses Kind breiteten.
Darum bitte ich Euch allergnädigst, als treuer und demütiger Diener des Herrn, um Erlaubnis, mich Gott fügen und dieses Kind zu mir nehmen zu dürfen. Ich bitte Euch aus meinem vollen Herzen im Namen des Herrn, Er, der nicht nur Gott ist, sondern die Quelle der Güte selbst.
Ich bin bereit, mich jeder erdenklichen Ermahnung und Restriktion zu unterwerfen, welche dieser Wunsch mit sich führen mag. Zusammen mit diesem Brief schicke ich einen Brief, der Hildebert von Bermersheims Siegel enthält und sein großzügiges Angebot.
Ich wünsche Euch Stärke an Seele und Leib. Amen.
Jutta von Sponheim, Sankt Michaels Tag, 29. September, 1106.
Weder Jutta noch Sophia können den Gedanken an Hildegard loslassen, doch keine spricht mit der anderen darüber. Sophia stellt sich vor, wie es sein wird, wieder ein Kind im Haus zu haben. Auch wenn das Mädchen nur ein oder zwei Jahre in Sponheim sein soll, bis die Klause am Disibodenberg fertiggestellt ist, und auch wenn es nicht ihr eigenes Kind ist, wird sie versuchen es als solches zu behandeln. Soweit sie Hildebert verstanden hat, wollen er und Mechthild das Kind Juttas Obhut überlassen, ganz gleich, was der Erzbischof antwortet. Erhalten sie keine Erlaubnis, soll das Mädchen mit Jutta in ein anderes Kloster gehen. Doch fragt sich Sophia, was sie anfangen wollen, wenn nur Jutta zum Disibodenberg kommen darf. Da ist etwas an ihrer Vereinbarung, das ihr verborgen bleibt, dessen ist sie sich mit einem Mal sicher, sonst wären sie nicht so erpicht darauf, das Kind loszuwerden. Sie sah auch merkwürdig aus, die Kleine, wirkte so zart und unruhig, liegt wohl auch ständig mit Fieber und Krankheit danieder. Andererseits, denkt sie, ist Hildebert sicher klaren Verstandes, wenn er seine Tochter wegschicken will. Mit dem Unglück, das seinen Hof und sein Eheweib getroffen hat, ist es besser für das Kind,
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