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Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition)

Titel: Tochter des Lichts: Ein Hildegard von Bingen-Roman (insel taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Lise Marstrand-Jørgensen
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Sie macht sich die ganze Zeit über Gedanken, und es fällt ihr schwer, Ruhe zu finden, selbst wenn sie betet. Sie will das Kind nicht zu ihrem eigenen machen, denn nichts soll ihr Gespräch mit Gott stören. Dennoch glaubt sie, dass sie ein Kind, das Gott ihr schickt, auch zu sich nehmen muss. Sie kann im Kloster keine engen Freundschaften schließen, das hat Vater Thomas ihr eingeschärft. Im Grunde, denkt sie, ist alles, was meine Gedanken von Christus ablenkt, zu vergleichen mit einem Eheweib, das seinen Mann betrügt.
    An manchen Tagen geht sie stundenlang umher. Sie folgtdem Weg zum Wald, kehrt um und geht zum See, folgt ihm ein Stück, bevor sie umkehrt und wieder zurück zum Haus geht. So geht sie umher, wieder und wieder, während sie sich den Weg als ein Dreieck vorstellt und jede Seite des Dreiecks als einen Teil des dreieinigen Gottes. Heiliger Geist, Heiliger Geist, Heiliger Geist wiederholt sie für sich den ganzen Weg bis zum Wald hinüber, Vater, Vater, Vater den ganzen Weg bis zum Fluss hin, Sohn, Sohn, Sohn auf dem Stück zurück. Manchmal fühlt es sich an, als ob eine Kolonie Krähen in ihren Gedanken nistet. Sie krächzen und ziehen Haare aus dem Schädel heraus. Sie hält ihren Kopf mit beiden Händen fest, während sie vor und zurück geht, vor und zurück. Die Tage, an denen die Krähen am meisten lärmen, zieht sie es vor, am Fluss entlangzugehen. Dort sind die Steine hart und scharf, und der Schmerz jagt die Vögel weg.
 
    Am Tag der 11 000 Jungfrauen kommt Hildebert später als die anderen, und er scheint nicht besonders froh zu sein, seine Familienangehörigen zu sehen. Die Einzige, die er ordentlich zu begrüßen sich die Mühe macht, ist Jutta. Sie ist lange vor dem Morgengrauen aufgestanden und hat seitdem nicht die Ruhe gehabt, sich hinzulegen. Sie hofft, dass Hildebert ihr mehr sagen kann als Meinhardt, und kann es beinahe nicht abwarten, ihn zu fragen.
    Ursula ist herausgeputzt, als solle sie zu einer Hochzeit, neben ihrem farbenprächtigen Kleid gleicht ihr Kuntz einem Spatz. Kristin ist mit ihrer vierten Schwangerschaft belastet, ihr Mann ist in Heidelberg, aber sie versichert ihnen, dass er gerne alles hätte liegen- und stehenlassen, wenn er nur von der Einladung gewusst hätte.
    Sophia ist, schon bevor sie sich an den Tisch gesetzt haben,über Kristins zuvorkommende Fasson verärgert, fragt aber dennoch nach der Schwangerschaft und der bevorstehenden Geburt. Es ist Kristins fünftes Kind, erzählt Ursula, bevor ihre Tochter es schafft, etwas zu sagen. Großmutter ist anscheinend stolz auf ihre Zuchtkuh, denkt Sophia und späht zu Meinhardt am Kopfende des Tisches hinüber. Zu seiner Rechten sitzt Kuntz, daneben Hildebert, der recht übellaunig dreinblickt. Sophia lächelt und nickt und tut so, als höre sie zu, während Ursula und Kristin darum wetteifern, belanglose Geschichten zu erzählen.
    Als der erste Gang hereingetragen wird, senkt sich einen Augenblick lang eine gesegnete Stille über den Tisch. Ursula greift tüchtig zu, es kommt nicht von ungefähr, dass sich der Bauch unter dem fülligen Busen wölbt, so fett ist sie geworden. Obwohl das Kleid neu ist, spannt es überall. Sie schwitzt, während sie isst, fährt sich mit der Hand übers Gesicht und lächelt Sophia zu. Kristin leckt sich die Finger mit einem kleinen, klebrigen Laut, der Sophia auf die Nerven geht.
    Zuerst nickt Ursula viele Male, als nehme sie Anlauf, dann sagt sie, sie habe gehört, Hildegard solle in Sophias Obhut. Kristin berichtigt sie leise. In Juttas Obhut, sagt sie und taucht ihre Hände in die Fingerschale. Danach trocknet sie sie lange an der Serviette ab, ohne aufzusehen. Auf der anderen Seite des Tisches erwacht Jutta, als sie Hildegards Namen hört. Sie hat ausgesehen, als schlafe sie mit offenen Augen. Sophia hätte sie am liebsten in die Seite gepikt. Nun hellt sich ihr Gesicht auf, und sie blickt zuerst zu Ursula und Kristin und dann zu ihrer Mutter, dann weiter zu Hildebert, um zu sehen, ob auch er es gehört hat. Aber Hildebert sitzt nur da, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und schweigt. Er langt kräftig zu, kommentiert aber Meinhardts und Kuntz' Unterhaltung mit nichts weiter als einem Grunzen. Er sieht gar nicht erst in Richtung der Frauen. Jutta sinkt wieder in sich zusammen, antwortet aber entgegenkommend, sie sei dankbar für die Aufgabe, die Gott ihr gegeben habe, sich um das Kind zu kümmern. Ursula hustet, Kristin nickt viele Male, und Sophia will etwas sagen, ist

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