Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
wirklich zugetragen hatte, sondern nur ein böser Traum gewesen war. Die Welt war doch nicht untergegangen, Thure hatte sie nicht in die Tiefe gerissen, und Schlangen und Wölfe und Krieger hatten nicht miteinander in einem wüsten Kampf gelegen.
Als die Übelkeit sich etwas legte und der Kopfschmerz nachließ, blickte Gisla an sich herunter und sah voller Entsetzen das viele Blut zwischen ihren Beinen. Sie hatte es nicht geschafft, sich den Schlangen und Wölfen zu widersetzen ... hatte zu wenig gekämpft, sich zu wenig gewehrt ... hatte alles mit sich geschehen lassen.
Ihr Blick fiel auf den Beutel, den Thure für gewöhnlich um seine Brust trug, und der nun auf dem sandigen Boden lag. Sie starrte darauf, und ein Gedanke kam ihr, kalt und nüchtern wie die Abenddämmerung. Er hatte sie betäubt, geschändet und sie genauso achtlos liegen lassen wie diesen Beutel, gleichgültig, ob sie im Schlaf erfrieren würde.
Das hieß - vielleicht war es ihm doch nicht gleichgültig, er hatte immerhin ihren Leib mit ihren Kleidern bedeckt. Zerrissen waren sie, und als sie aufstand, rutschten sie von ihren kalten Gliedern. Der Wind biss an ihrer Haut, sie war nackt, und sie war nicht mehr dieselbe wie am Morgen, nicht die Frau, die die letzten Wochen aus eigener Kraft überlebt hatte, sondern ein Kind, schutzlos, mutterlos. Wo waren die Hände, tröstend, wärmend, Beggas oder Fredegards Hände, die sie einst gehalten hatten, wenn sie sich einsam fühlte oder unter Schmerzen litt?
Mutter, dachte sie, Mutter, wo bist du?
Am Morgen schien die Welt still gestanden zu haben, und sie hatte sich gedreht, immer schneller, immer wüster. Nun schien sich die Welt zu drehen, und sie stand steif, gewiss, dass sie sterben würde, machte sie nur eine falsche Bewegung. Doch ganz gleich, was sie tat, ob es das Richtige oder das Falsche, ob es christlich oder heidnisch war - nichts würde etwas daran ändern, was geschehen war. Nichts würde etwas daran ändern, dass das Geschäft missglückt war, wonach ihr Gutes geschehen müsste, wenn sie selbst Gutes täte.
»Runa ...«
Aus der Tiefe ihrer Kehle löste sich der Name ihrer Gefährtin. Ihr schwindelte wieder, aber sie konnte klar denken: Wenn jemand stark genug war, die sich drehende Welt aufzuhalten, dann war es Runa.
Gisla verharrte nicht mehr reglos, sondern schlüpfte in ihre Kleider und ging den Strand entlang, um Runa zu suchen. Sie fühlte nicht, worauf sie trat - Tang oder Steine, Sand oder Treibholz.
»Runa ...«
Als sie das Haus erreichte, hatte der Wind ihren Schwindel vertrieben. Trotzdem verschwamm das Bild vor ihren Augen, als sie die Dinge, die nicht sein konnten, sah. Unmöglich, dass Taurin dort hockte - gefesselt und besiegt. Unmöglich auch, dass sein Schwert auf dem Boden lag und Runa, gleichwohl an der Hand verletzt, triumphierend daraufstarrte. So sah sie für gewöhnlich aus, wenn sie ein Tier erlegte oder vom Schiffbau kam - nur war dieses Gefühl jetzt hundert Mal stärker.
Taurins Blick hingegen war voller Wut - zumindest so lange, bis er auf sie fiel. Dann wich die Wut dem Entsetzen. Sie bot offenbar einen solch schauderhaften Anblick, dass selbst die gefährlichsten Feinde erschraken.
Runa folgte seinem Blick. Einzig dem Trachten hingegeben, Taurin zu bezwingen, hatte sie Gisla wohl nicht vermisst. Jetzt schien ihr aufzugehen, dass die Welt, in der sie die Stärkere war und ihre Feinde unterlagen, nicht so groß war wie gedacht, sondern winzig klein. Und dass sie sich nicht auf den Strand erstreckte, von dem Gisla kam.
Gisla sackte auf die Knie. Anders als ihre Fußsohlen waren diese nicht taub. Sie spürte Holzsplitter und Steine, die sich in die Haut bohrten.
Ein Name kroch aus Runas Mund. »Thure ...«
Gisla war froh, dass sie ihn nicht selbst aussprechen musste. Der Name, so war sie sich sicher, würde ihr die Kehle zerfetzen, so wie Thure ihr Kleid zerfetzt hatte. Sie nickte nur schwach.
Ein Pfeifen tönte aus Taurins Mund; er zerrte an den Fesseln, doch die hatte Runa - an Händen wie an Füßen - so fest gebunden, dass er sie nicht lösen konnte. Sie versetzte ihm einen wütenden Stoß, Taurin hielt still, und Runas Wut erlosch.
»Du ... du wolltest, dass ich ihn am Leben lasse«, stammelte sie, da ihr forschender Blick mehr erkannte, als Gisla ihr je hätte erklären können. »Du warst diejenige, die ihm helfen wollte ...«
Es gab nichts, was Gisla diesen Worten entgegenhalten konnte. Der Leib wurde ihr so schwer. Sie stützte sich mit
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