Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
den Händen ab und konnte die Last doch nicht halten - die Last dieses Leibes und die Last der Erinnerungen an das, was ihr geschehen war. Ehe sie zu Boden ging, war Runa bei ihr - Runa, die ahnte, dass nicht der rechte Zeitpunkt war, der Gefährtin das eigene Verhalten vorzuwerfen, Runa, die sie an sich zog und umarmte.
Taurin starrte die beiden Frauen an. Er wusste nicht, was genau Thure Gisla angetan hatte, aber er sah, dass sie weinte, dachte, dass sie tief gesunken sein musste, es so hemmungslos vor seinen Augen zu tun. Seine Wut, an der er geglaubt hatte, ersticken zu müssen - Wut auf Runa, die ihn bezwungen hatte, und Wut auf sich, weil er sich hatte bezwingen lassen -, schwand. Kalte Befriedigung kroch in ihm hoch.
Kein Wunder, dass Gisla so endete. Die Karolinger waren allesamt Schwächlinge und der Krone längst nicht mehr würdig. Sie taugte so wenig wie ihr Vater taugte, der zwar die Krone zurückerobert hatte, die man ihm als Kind raubte, aber dessen Reich von Nachbarn umgeben war, die allesamt stärker waren als er. Selbst die Nordmänner machten sich über ihn lustig, weil sein Körper in ihren Augen nicht trainiert und kampferprobt war, weil er zwar gut schreiben konnte, seine Pflichten als Herrscher jedoch vernachlässigte, und weil er den Luxus liebte. Vielleicht lag es daran, dass er ohne Vater aufgewachsen war, einen Vater, der ihm beigebracht hätte zu kämpfen, statt zu schreiben. Allerdings hatte auch ihm, Taurin, niemand beigebracht zu kämpfen - und dennoch hatte er es getan, hatte nie aufgegeben, sich nicht gehen lassen, hatte an seinem Wunsch nach Rache festgehalten. Rache für seine Schöne. Rache, die zu nehmen er an diesem Tag wieder einmal gescheitert war.
Die Befriedigung schwand, blanker Hass überwältigte ihn, verbittert zerrte er erneut an den Fesseln, obwohl es sinnlos war und obwohl seine Wunde am Oberschenkel, nicht tödlich, aber schmerzhaft, darob noch stärker blutete. Er versuchte, ein Ächzen zu unterdrücken - die schwarze Frau, Runa, hörte ihn trotzdem. Eben noch hatte sie auf die Königstochter eingeredet, um sie zu trösten - nun schritt sie, das Messer in der Hand, auf ihn zu.
Er war sich sicher, sie würde ihn töten, und er wollte, dass sie es tat. Doch als sie vor ihm stand, ließ sie das Messer sinken, und der Ausdruck ihres Gesichts war fragend, nicht entschlossen.
Gisla hatte aufgehört zu schluchzen, nun blickte sie nicht minder verwundert als Taurin auf und schien kurz das eigene Elend zu vergessen.
»Warum tötest du ihn nicht?«, fragte sie.
So erbärmlich der Anblick war, den sie bot - ihre Stimme war es nicht, sie war kalt und hart.
Runa presste ihre Lippen aufeinander.
Ja, dachte Taurin, töte mich doch, dann hat alles sein Ende.
Doch Runa hob ihr Messer nicht wieder, sagte nur: »Ihn soll ich also töten. Dass ich hingegen das Scheusal Thure töte, wolltest du nicht.«
Die Kälte schwand aus Gislas Stimme. Nunmehr schluchzend stammelte sie: »Das war ein Fehler! Ich habe mich geirrt. So töte aber doch wenigstens ... ihn.«
Das Messer entglitt Runas Händen. Es war zu weit entfernt, dass er es greifen konnte, und dennoch war es leichtsinnig, dass sie sich nicht bückte und es wieder aufhob.
»Ich bin nicht deine Sklavin«, murmelte Runa. »Und du bist nicht die Herrin, die mal befiehlt, ich müsse einen am Leben lassen, und mal, ich solle töten. Tu es doch selbst, wenn du es willst. Ich habe genug davon.«
Ganz steif blieb sie stehen. Gisla kroch näher, hob nun das Messer auf. Sie hielt die Waffe weit von sich und musterte sie befremdet, als hätte sie - obwohl sie doch schon lange genug in einer Welt lebte, in der das Gesetz des Stärkeren galt - dergleichen noch nie gesehen.
Taurin lachte auf - nein, eigentlich war es mehr ein Brummen als ein Lachen. »Das schaffst du nie!«, höhnte er.
Er wusste: Ein Messer in den Leib eines gesunden Mannes zu stoßen bedurfte viel Kraft. Und noch mehr Kraft brauchte man, wenn man es zum ersten Mal tat und all jene Stimmen zum Schweigen bringen musste, die aus einem selbst tönten und riefen, man solle es nicht tun.
Gisla hob den Blick und sah ihn an, nicht mehr verstört, sondern erstaunt, als könnte sie es nicht fassen, dass einer, vor dem sie so große Angst hatte, wie ein normaler Mensch reden konnte.
»Das schaffst du nie!«, wiederholte er.
Da ließ sie das Messer fallen, raffte sich auf und lief davon. Sie kam nicht weit, strauchelte schon nach wenigen Schritten. Ihre zerrissenen Kleider
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