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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Geräusche: ein spitzer, hoher Schrei, ein Poltern, als springe ein schweres Wesen von einem Baum, das Rascheln von Blättern. Runa versuchte, jedem Geräusch zu folgen, doch am Ende hatte sie sich nur im Kreise gedreht. Vor ihr auf einer Lichtung, etwas größer als jene, auf der sie den letzten Abend und die Nacht verbracht hatte, hoppelte ein Hase. Für gewöhnlich hätte sie ihn gejagt und gehäutet, doch sie blieb steif stehen, hielt den Atem an, lauschte wieder. Manchmal erschien ihr das Gehör als ihr einziges Sinnesorgan, dem sie noch vertrauen konnte. Sie sprach mit niemandem, sie nahm keine Farben wahr, sie roch es nicht, wenn das Fleisch verbrannte, und sie schmeckte nichts, wenn sie es aß. Aber sie hörte alles - hörte nun ein Flüstern, ein Raunen.
    Runa überlegte, ihr Messer zu ziehen. Wenn sie es früher geschleudert hatte, hatte sie mühelos einen Baumstamm treffen können. Jetzt traf sie auch Ziele so dünn wie ein Ästchen. Doch wohin sollte sie es schleudern, wenn die Laute doch von allen Richtungen zu kommen schienen, wieder das Knacken, wieder das Raunen, zuletzt ein glucksendes Gelächter?
    Ihr Magen verkrampfte sich. Sie hörte es nicht nur, sie fühlte es auch - fühlte, dass jemand hinter ihr stand, sie betrachtete. Jäh huschte ihr ein Gedanke durch den Kopf, den sie bis jetzt noch nie gedacht hatte: Ich will nicht in der Fremde sterben. Dann fuhr sie herum.
    Runa blickte nicht in fremde Augen. Aber unter einem Busch standen Füße, menschliche Füße.
    Die Füße bewegten sich nicht. Reglos standen sie im weichen Moos. Oder waren es Baumwurzeln? Spielten Wildnis und Einsamkeit ihr einen Streich? Vielleicht hatte sie schon zu lange allein gelebt.
    Doch dann hoben sich die Füße ganz langsam auf ihre Zehenspitzen. Sumpfig braunes Wasser wurde aus dem samtigen Mooskissen gepresst, die Blätter erzitterten, und noch ehe Runa das Gesicht des Menschen erkennen konnte, der sich aus dem grünen Dickicht löste, wusste sie, wer er war. Wusste es, weil er lachte, und weil sie in ihrem Leben nur so wenige Menschen hatte lachen hören.
    Blitzschnell, jedoch nicht schnell genug, griff sie nach ihrem Messer. Jemand zerrte ihr die Hände auf den Rücken. Nein, nicht der Mann aus dem Gebüsch, der stand seelenruhig vor ihr, aber einer seiner Bande, die sie langsam und lautlos eingekreist hatte. Ein Dutzend Männer, mit Schwertern, Speeren, Äxten und Schilden bewaffnet, viel zu viele, um sich gegen sie zur Wehr zu setzen.
    Runa tat es dennoch, teilte einen Tritt nach hinten aus, kam kurz frei, und ehe man sie erneut packte, machte sie einen Satz zur Seite. Weglaufen konnte sie nicht, zu dicht hatte sich der Kreis der Männer um sie geschlossen, aber sie presste sich Schutz suchend an einen Baum. Wer immer sie nun angreifen wollte, musste ihr ins Gesicht sehen und konnte sich nicht heimtückisch anschleichen. Wieder griff sie nach dem Messer, und diesmal hielt niemand sie davon ab, es drohend zu erheben.
    »Ihr seid in der Übermacht«, knurrte sie. »Aber bevor ihr mich tötet, nehme ich so viele wie möglich mit.«
    Es waren kehlige, unmenschliche Laute, die aus ihrem Mund tönten. Als Antwort kam nur wieder das Lachen.
    Die raue Rinde des Baumes grub sich in Runas Schultern, als er auf sie zutrat - Thure, der Mann, dessen Füße sie für Baumwurzeln gehalten hatte, der ihren Vater getötet hatte und der auch sie hatte töten wollen. Erneut spürte sie das kalte Wasser, das ihr die Luft zum Atmen geraubt hatte, den Regen von Pfeilen, die haarscharf an ihrem Kopf vorbeigeschossen waren.
    Runa sah, dass Thure ein Messer an seinem Gürtel trug - klein wie ihres und gewiss so scharf -, aber er zog es nicht, sprach vielmehr spöttisch: »Odin muss dich wie eine Tochter lieben.«
    Sie begriff nicht, was er meinte. Vielleicht hatte sie nicht nur das Sprechen verlernt, sondern auch das Hören.
    »Ja, wie eine Tochter«, wiederholte er. »So viele Räuberbanden tummeln sich im Nordmännerland - und so viele werden in diesen Tagen von Rollo dingfest gemacht, neuerdings der Retter fränkischer Bauern. Doch du bist ihm bis jetzt entgangen.«
    Er trat noch näher, sie hob das Messer höher.
    »Keine Angst«, lachte er, »ich habe nicht länger im Sinn, dich zu töten, Runa. Und meine Männer werden dir auch nichts tun.«
    Nicht deine Männer, ging ihr durch den Kopf. Die Männer meines Vaters.
    Sie erkannte jedoch kein einziges Gesicht wieder - und sie glaubte Thure nicht, dass sie vor ihnen sicher war. Zumindest

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