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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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drängte sich an Ästen vorbei, die ihr, ausgebreiteten Armen gleich, den Weg verstellten, balancierte auf Steinen über sumpfige Stellen, achtete nicht auf die Blätter, die sich in ihrem struppigen Haar verfingen. Nach einer Weile, da sie sich ausreichend von ihrem Schlafplatz entfernt zu haben glaubte, hielt sie inne, lauschte wieder. Kein Laut drang an ihr Ohr, der Wald schien verstummt. Waren die Tiere mit ihr geflohen? Doch vor wem? Und konnte sie dem unsichtbaren Feind so mühelos entkommen wie die Bewohner des Waldes?
    Dann erneut ein Laut, diesmal ein Rascheln. Vielleicht war es ein Auerochse oder ein Büffel. Hirsche und Wildschweine hatte sie sogar schon gejagt - wenn auch nicht mit ihrem Messer, damit konnte sie nur kleine Tiere töten. Um große zu erlegen, hatte es anderer Waffen bedurft, und um an diese zu kommen, hatte sie sie stehlen müssen. An einem der Tage, da sie gestohlen hatte, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben einen Menschen getötet.
    Vorsichtig schlich Runa weiter durchs Gebüsch, nicht länger von dem fremden Geräusch gejagt, sondern von ihren Erinnerungen, die nach einer durchschlafenen Nacht nicht gnädig schwiegen wie in den Zeiten völliger Erschöpfung.
    Der erste Tote war ein fränkischer Bauer gewesen, hatte in einem Haus aus Holz und Lehm gewohnt, das - wie drei weitere solcher Gebäude nebst Schuppen, Speicher, Scheune und Stall - von einem Palisadenzaun umgrenzt war. Runa hatte die kleine Siedlung tagelang beobachtet, sich schließlich, da sie kein Lebenszeichen wahrgenommen hatte, angeschlichen. Voller Wehmut kam ihr ihre Heimat in Erinnerung.
    Manches war fremd, vieles vertraut. Das Nordmännerland im Frankenreich war fruchtbarer als die norwegischen Fjorde, doch es war ähnlich verwahrlost. An vielen Orten war Getreide verfault, ehe man es geerntet hatte, an anderen war es gar nicht erst gesät worden. Getreide glaubte sie in dem Bauernhaus also nicht zu finden, nur Werkzeuge und Waffen.
    An ihrer statt stieß Runa auf Leben - zunächst auf das von vier Ferkeln und zwei Hühnern, die sich in der Wohnstube tummelten und die sie am liebsten sofort geschlachtet hätte, so hungrig war sie. Sie suchte nach Eiern, doch ehe sie welche fand, schrie hinter ihr lauthals eine Frau, und als sie sich umdrehte, stürzte ein Mann auf sie zu. Sein Gesicht war müde und zerfurcht, die Hände aber groß und kräftig. In einer hielt er einen Rechen mit spitzen Zinken. Runa versuchte, etwas zu sagen, doch natürlich verstanden die beiden sie nicht.
    In ihrer Verzweiflung zog sie das Messer. »Lasst mich gehen, und ihr seht mich nie wieder!«
    Als der Mann auf sie losging, ließ Runa das Messer sinken, duckte sich und schlüpfte an ihm vorbei ins Freie. Doch kaum hatte sie den Palisadenzaun erreicht und zum Sprung angesetzt, hörte sie seine dröhnenden Schritte und spürte den kalten Lufthauch, als er den Rechen auf sie niedersausen ließ. Wieder duckte sie sich, wich dem Rechen wendig aus und schleuderte ihr Messer. Nicht willentlich hatte sie auf ihn gezielt, nur instinktiv ihr Leben vor seines gesetzt. Als er im nächsten Augenblick zuckend und blutend zusammensank, stand sie einen Moment wie erstarrt neben ihm. Dann überwand sie ihr Entsetzen und zog das Messer aus seinem noch warmen Fleisch. Blut lief ihr über die Finger, aber es war ihr unmöglich, auf das Messer zu verzichten! Erbärmlich zitternd übergab Runa sich noch neben dem Leichnam. Dann rannte sie davon.
    Wenn sie später daran dachte, überkam sie immer wieder Fassungslosigkeit. Geweint hatte sie an jenem Tag jedoch nicht - nicht, wie sie über die toten Wolfswelpen geweint hatte.
    Für eine Weile hatte Runa jeden Hof gemieden, aber sie hatte Werkzeuge und Waffen gebraucht - und stehlen müssen. Einmal hatte sie auch einen Feuerstein erbeutet oder grobe Fäustlinge, nicht aus Filz, wie sie sie früher trug, sondern aus Wolle, die nicht minder wärmte. Sie floh, wenn man sie entdeckte. Sie wehrte sich, wenn man sich ihr in den Weg stellte. Und wenn man sie zu töten versuchte, tötete sie zuerst. Zweimal. Dreimal. Jedes Mal quälte es sie mehr.
    Als es Sommer wurde, stellte Runa erleichtert fest, dass sie genügend Waffen besaß - unter anderem einen Speer, den sie aus einer Sense gemacht hatte, ein weiteres Messer und einen Bogen mit Pfeilen, die sie selbst geschnitzt hatte -, und hoffte, nie wieder töten zu müssen.
    Jetzt schwand diese Hoffnung. Auf die Stille, eindringlicher als jeder Lärm, folgten wieder

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