Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
eigene Stimme, ebenso unsicher wie empört, erstmals wieder.
Sein Gesicht blieb ernst. »Du würdest vor allem dir selbst helfen.«
Thures Männer regten sich nicht. Grobschlächtig waren sie, vom rauen Leben gezeichnet, gewiss gewalttätig und gefährlich und ihr dennoch irgendwie vertraut. Der Trieb einte sie mit ihnen - der Trieb, es von Tag zu Tag zu schaffen - und die Gewissheit, dass sich die größte Wohltat nicht erleben ließ, wenn man sein Gesicht in der Sonne wärmte, die Umarmung eines Liebsten suchte oder ein gutes Stück Fleisch genoss, sondern wenn man sich vor Augen hielt, nicht der Erste zu sein: der Erste, der von einer Waffe getroffen blutig auf den Waldboden sank; der Erste, der verhungerte und erfror; der Erste, der an einem Fieber starb, gegen das sich der ausgezehrte Körper nicht wehren konnte.
Thure begann, unruhig auf und ab zu laufen. Auf dem sumpfigen Waldboden fand er keinen festen Stand, drohte mehrmals zu fallen. Als er sich wieder zu ihr drehte, war sein Blick feucht und irr.
»Ich sage dir gerne noch einmal, wie du mir helfen wirst und ich dir«, sagte er.
Er sprach von einem kleinen Ort im Grenzgebiet zwischen Nordmännerland und Frankenreich, Saint-Clair-sur-Epte genannt, weil er am Fluss Epte lag und zugleich an der alten römischen Straße, die Laon und Rouen verband. Nicht nur Fluss und Straße befanden sich dort, sondern auch eine Kapelle - eines der Häuser, die die Christen für ihren gekreuzigten Gott errichteten. In dieser Kapelle hatte einst, vor vielen hundert Jahren, Sankt Clarus gelebt, sein Leben dem Zwecke geweiht, den gekreuzigten Gott anzubeten. Die meiste Zeit hatte er allein zugebracht, dann und wann nur Besuch empfangen, von Menschen, fromm und gottesfürchtig wie er, aber auch von Sündern. Diesen Sündern hatte er ins Gewissen geredet, ihr Leben zu ändern, und eine von ihnen, ein vornehmes Weib, war daraufhin so erbost gewesen, dass sie Mörder auf ihn gehetzt hatte. Diese Mörder hatten Sankt Clarus den Kopf abgehauen - verstummen lassen aber konnten sie ihn nicht. Der Mund sprach nämlich weiter und verzieh den Mördern - ob auch der Frau, die diese beauftragt hatte, wusste Thure nicht. Er wusste nur, dass Sankt Clarus nicht der erste und nicht der letzte Heilige gewesen war, der niedergemetzelt wurde.
»Der gekreuzigte Gott ist ein Schwächling, der tatenlos zugesehen hat, wenn die Seinen gemartert und erstochen und verbrannt und ertränkt und aufgehängt wurden. Er hockt lieber droben im Himmel, anstatt sich mit der Welt abzugeben. Und er ist nicht nur ein schwächlicher Gott, sondern ein langweiliger dazu«, höhnte Thure. »Wie viel lieber ist mir unser Odin, der die Menschen unablässig zum Streit anstiftet, auf dass sie sich gegenseitig töten und er genügend Krieger in Walhall versammeln kann! Odin hockt nicht im Himmel. Keine List ist ihm zu schändlich, kein Kampf zu blutig, kein Opfer zu grausam, um sich für das Ende der Welt zu rüsten.«
Thure lachte auf, dann schwieg er.
Endlich, wie Runa befand. Sie wusste nicht, was sie von seiner wirren Rede zu halten hatte, und noch weniger wusste sie, was er von ihr wollte. Sie fragte ihn mit fester Stimme, ein Beben unterdrückend.
Erst lachte er erneut, dann fuhr er fort: »Nicht nur Sankt Clarus' Blut ist an besagtem Ort vergossen worden - rund um seine Kapelle hat es fortan viele Schlachten gegeben, von Franken gegen Franken ausgefochten, von Nordmännern gegen Nordmänner oder von Franken gegen Nordmänner. Such es dir aus. Es gibt so viele Gründe, warum Männer kämpfen und Blut fließt. In jedem Fall ist der Boden um Saint-Clair-sur-Epte mit Blut getränkt worden. Das Getreide soll dort gut wachsen.«
Thure schmatzte genüsslich. Weil er an das Brot aus diesem Getreide dachte oder an das Blut?
»Ich dachte, eine Kapelle stünde dort - und nun sprichst du von Getreidefeldern?«, fragte sie ungehalten.
»Vielleicht ist die Kapelle von Getreidefeldern umgeben?«, schlug er vor.
Sie starrte ihn kopfschüttelnd an, als er erneut begann, auf und ab zu gehen.
»Ob nun Kapellen oder Felder dort zu finden sind - seit kurzem wird Saint-Clair-sur-Epte ein Ort des Friedens genannt. Und dort wollen sie sich treffen: Karl und Rollo.«
Runa wusste nicht viel von der Welt, in der sie lebte - dies aber schon: Rollo war Anführer der Nordmänner. Und Karl offenbar der König der Franken.
»Sie wollen Frieden schließen, Frieden! Denk dir das!«, kreischte er.
Thures Augen glänzten, die Narben auf
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